Süddeutsche Zeitung

Geschichte der CDU:Der große Schwamm

Die CDU wollte einst alle Christen und alle, die nichts mit dem Sozialismus am Hut hatten, einsammeln, Grundsatzprogramm gab es lange keines. Ein Aufsatzband, herausgegeben von Norbert Lammert, beleuchtet 75 Jahre interessante Parteigeschichte.

Rezension von Franziska Augstein

Norbert Lammert als Bundestagspräsident schrie nie so durchdringend laut wie sein Pendant, John Bercow, der als Sprecher des britischen Unterhauses mit seinen Rufen zur Ordnung weltweit berühmt wurde. Lammert, auch ein Konservativer, hat es nie nötig gehabt, seine Stimmbänder so zu strapazieren wie Bercow. Beiden gemeinsam ist aber: Mit Witz und Wortgewalt haben sie sich für die Rechte des Parlaments eingesetzt und gegen Alleingänge ihrer Regierungen.

Nun hat Lammert ein Buch herausgegeben, in dem 26 "Beiträge und Positionen zur Geschichte der CDU" versammelt sind; am vergangenen Donnerstag wurde es vorgestellt (siehe SZ vom 28. August). Als Autoren wurden etliche CDU-Mitglieder und CDU-Sympathisanten gewählt.

Das stört aber nicht, weil es allen Autoren um getreuliche Entfaltung ihres Themas geht. Das gilt sogar für den Historiker Andreas Rödder, der die CDU als "Staatspartei" der Bundesrepublik bezeichnet. Da die Partei von Adenauer bis Merkel die meisten Jahre lang die Kanzler gestellt hat, wäre an dieser Formulierung allenfalls auszusetzen, dass sie etwas Tautologisches an sich hat.

Der einzige ärgerliche Beitrag - "Die CDU zwischen transatlantischer Bündnistreue und Ausgleich mit dem Osten" - stammt von dem Bundeswehrgeneral a.D. Klaus Naumann. Seit 1966, klagt er, sei das Außenministerium der CDU verloren gewesen: "Damit ging ein bis heute spürbarer Verlust an außenpolitischem Sachverstand einher."

Die anerkanntermaßen exzellente Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt hält Naumann offenbar für schlecht. Dass der SPD-Kanzler Gerhard Schröder beim Irakkrieg 2003 nicht mitmachte, hält er für verantwortungslos, ignoriert aber, dass Frankreich unter dem Konservativen Jacques Chirac auch nicht mitmachte.

So gut wie common sense ist mittlerweile, dass dieser Krieg unter der Ägide der Vereinigten Staaten ein Fehler war, weil er nicht bloß die Staatlichkeit des Irak demolierte, sondern die gesamte Region auf Dauer destabilisierte. Will Klaus Naumann, der USA-Freund, das nicht wissen, oder hat er es etwa nicht mitbekommen?

Das Gros der Aufsätze hingegen macht das Werk fast zu einem Handbuch: Gedächtnisauffrischung für jene, die die Zeiten erlebt haben, informativ für jene, die wenig Ahnung haben. Besonders eindrucksvoll, weil von aufrechter Haltung zeugend, ist Peter Müllers Text über "die CDU und die innere Sicherheit".

Der frühere CDU-Ministerpräsident und Justizminister des Saarlands ist alles andere denn ein Parteisoldat. Er schreibt etwa, was nicht als Lob gemeint ist, sondern bloß objektiv: "Statt der Maxime ,Hilfe statt Strafe' scheint die Union sich eher dem Grundsatz ,Strafe hilft' verpflichtet zu fühlen."

Die größte Leistung der CDU ist vielleicht gewesen, dass diese Partei den Jahrhunderte währenden Konfessionsstreit zwischen Katholiken und Protestanten beseitigte. Sie nannte sich "christlich": Das genügte. Wie das möglich war, schildern die Historiker Frank-Lothar Kroll und Edgar Wolfrum.

Das Erfolgsrezept der CDU bestand Jahrzehnte lang nicht zuletzt darin, dass sie - anders als die SPD - kein Grundsatzprogramm hatte. Das erste wurde 1978 verabschiedet. Und das war ziemlich schwammig. Die Partei wollte alle einsammeln, die nichts mit Sozialismus am Hut haben. Die CDU: ein Schwamm. Anders gesagt, nämlich mit dem Historiker Frank Bösch: Die Vorsitzenden "profitierten von dem bürgerlich geprägten Bedürfnis nach Harmonie und Respekt".

Außerdem hat die CDU alles, was zum Formenkreis des Wortes "Tradition" gehört, zumindest bis zur Kanzlerschaft Angela Merkels, hochgehalten. Dazu gehörte dann eben auch, dass ehemalige Nazis willkommen waren. Adenauers Wort, wenn man kein sauberes Wasser habe, müsse man mit altem waschen, beschönigte den Umstand, dass er sich im Kanzleramt besser aufgehoben fühlte als im Einklang mit seiner Moral.

Der Historiker Klaus-Dietmar Henke schreibt: "Jahrelang saßen im rechtskonservativen Bürgerblock achtmal mehr Bundestagsabgeordnete, die der NSDAP angehört hatten, als in den Reihen der Sozialdemokratie." Henke schildert, wie schwer die CDU sich damit getan hat, die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg und an der Shoah anzuerkennen.

Traditionsgemäß haben alle CDU-Kanzler die deutsche Wiedervereinigung beschworen. Zunehmend waren es lediglich Lippenbekenntnisse, wie der Jurist und Politologe Wolfgang Jäger zeigt. Helmut Kohl war bis 1989 mehr an einem einigen Westeuropa interessiert als an der deutschen Einheit.

Merkels Äußerung von der "Alternativlosigkeit" hätte sie besser unterlassen, schreibt der Historiker

Die CDU als Volkspartei hat immer auch einen "linken" Flügel gehabt: "Die Sozialausschüsse" der Partei, erklärt der Politologe Wolfgang Schroeder, "waren zuständig für die sozialen Fragen, während Mittelstandsvereinigung und Wirtschaftsausschuss die Deutungshoheit für wirtschaftliche Fragen besaßen."

Die Sozialausschüsse hatten es nicht leicht. Es brauchte starke Persönlichkeiten wie Jakob Kaiser, Norbert Blüm und Heiner Geißler, ihre Anliegen zu Gehör zu bringen.

Seit den 1990er-Jahren ist oft gesagt worden, die Grenzen zwischen Links und Rechts in der deutschen Politik seien aufgehoben. Wie sich gezeigt hat, stimmt das nicht ganz. Angela Merkel machte die CDU linker und grüner - was viele CDU-Wähler missmutig stimmte.

Der Zeithistoriker Thomas Brechenmacher hat die Ära Merkel gut zusammengefasst und erlaubt sich eine kritische Bemerkung, die es in sich hat: Merkels Reden, diese oder jene politische Maßnahme sei "alternativlos", hätte sie besser unterlassen. Denn "Politik wird dadurch ihres prinzipiell offenen Charakters entkleidet".

Offen und zur Lektüre einladend ist Lammerts Sammelband. Als Handbuch ist er am Ende aber leider nicht ganz geeignet: Anstatt jedem Kapitel die farbige Abbildung eines CDU-Wahlplakats voranzustellen, was die Druckkosten enorm erhöht, hätte man dieses Geld besser für ein Namens- und Sachregister ausgegeben.

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Quelle:
SZ vom 31.08.2020/odg
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