Karlsruhe bricht mit einer republikanischen Tradition. Diese Tradition besagt: Kein Bundeswehreinsatz im Inneren! Karlsruhe erlaubt nach den Out-of-area-Einsätzen auch die Einsätze der Armee im Inland.
Gewiss: nur in Ausnahmefällen. Gewiss: nur als letztes Mittel, nur als Ultima Ratio - wie es so schön heißt, wenn Juristen erlauben, was sie eigentlich nicht erlauben dürften. Gewiss: nicht zum Einsatz bei Großdemonstrationen. Man kennt solche Gewissheiten. Das Gewisse ist einige Zeit später schon nicht mehr gewiss. Es mag sein, dass das Bundesverfassungsgericht einer Politik, die Bundeswehreinsätze im Inneren seit zwanzig Jahren vergeblich gefordert hat, nur den kleinen Finger reichen wollte. Man weiß, wie so etwas weitergeht.
Beim Bundeswehreinsatz im Inneren seien strikte Voraussetzungen zu beachten. Ein Einsatz zur Gefahrenabwehr sei nur zulässig, sagt das höchste Gericht, bei "Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes". Es könnte sich bald herausstellen, dass dieses Wort eine pointierte Beschreibung der höchstrichterlichen Entscheidung ist.
Eine außergewöhnliche Konstellation
Der Große Senat des Bundesverfassungsgerichts, also der Erste und Zweite Senat zusammen, hat - das geht nur in dieser außergewöhnlichen, in dieser seltenen Besetzung und Konstellation - die Entscheidung des Ersten Senats zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006 teilweise aufgehoben: Der Erste Senat hatte das Gesetz, das den Abschuss mutmaßlich entführter Passagierflugzeuge erlaubt, damals auch deswegen aufgehoben, weil es den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Inneren als verfassungswidrig ansah. Die Plenumsentscheidung kommt nun zu einem anderen Schluss. Es wird nicht richtiger, weil nun 16 Richter so entschieden haben.
Es handelt sich erst um die fünfte Plenumsentscheidung in der Geschichte des Gerichts - und um die weitaus wichtigste. Die bisherigen vier Plenumsentscheidungen betrafen verfahrensrechtliche Probleme. Zum ersten Mal entschieden sämtliche Richter des höchsten Gerichts gemeinsam in einer fundamentalen Verfassungsfrage - es ist keine gute Entscheidung.
Die Verfassung nicht interpretiert, sondern verändert
Der Spruch, dass viele Köche den Brei verderben, ist einer fundamentalen Verfassungsfrage eigentlich nicht angemessen, aber er stimmt. Die Köche hätten sagen sollen, ja sagen müssen, dass man in das Grundgesetz auch mit 16 Richtern nicht hineininterpretieren kann, was einfach nicht drinnen steht. Solch fundamentale Entscheidungen, wie sie jetzt das Verfassungsgericht getroffen hat, sind Sache des Verfassungsgesetzgebers. Die Richter haben das Grundgesetz fundamental geändert. Das war und ist nicht ihre Sache.
"The Philosophers have only interpreted the world in various ways, the point however is to change it": So steht das in goldenen Versalien auf dem Grab von Karl Marx in London. Die Verfassungsrichter haben mit ihrer Bundeswehrentscheidung die Marx'sche Devise im Verfassungsrecht praktiziert. Sie haben die Verfassung nicht interpretiert, sie haben sie geändert. Es ist dies ein juristischer Handstreich.
Gewiss: Das ist Politik. Wer darüber entscheidet und entscheiden darf, was Politik machen darf und was nicht, macht Politik. Das Verfassungsgericht macht immer Politik, das gehört zu seinem Wesen. Aber in diesem Fall macht es falsche, abgrundtief falsche Politik.
Der schwelende Konflikt zweier Senate am Bundesverfassungsgericht ist zu Ende. Der erbittere Streit in der deutschen Politik über die Auslegung des Urteils beginnt.