Man muss es Ursula von der Leyen lassen - vom Fachbereich Werbung, auch der in eigener Sache, versteht sie mehr als die allermeisten ihrer Kollegen. Da erschüttert nicht zum ersten Mal ein unangenehmer Skandal die Truppe; da steht mindestens an der Oberfläche eine ganze Kaserne mit 1000 Soldaten im Zwielicht, und die Ministerin schafft es, aus den schwierigen Schlagzeilen das einzig nützliche herauszuholen. Nein, an diesem Dienstag steht keine zerknirschte Ministerin am Mikrofon, wie das früher in solchen Momenten der Fall gewesen wäre. Da steht eine kühl lächelnde, zackig-klare Frau von der Leyen, die in wenigen Minuten der ganzen Welt erklärt, warum der Skandal vor allem belegt, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Chuzpe ist ein zu schwaches Wort, um diese Leistung angemessen einzuordnen.
"Es sind gerade all diese unterschiedlichen Charaktere und Talente, die uns stark machen."
Seit einem halben Jahr plante das Verteidigungsministerium einen Workshop zum Thema "Sexuelle Orientierung und Identität in der Bundeswehr"; seit wenigen Tagen ist bekannt, dass in der Stauferkaserne in Pfullendorf Fälle von herabwürdigenden Ritualen und sogenannten Prüfungen große Aufregung und staatsanwaltliche Ermittlungen ausgelöst haben. Auch wegen Verletzungen der "sexuellen Selbstbestimmung", wie das genannt wird. Und was macht die Ministerin zum Auftakt ihres Workshops? Sie erinnert die 200 Zuhörer daran, welch großartige Veränderungen sich in der Truppe unter ihr vollzogen hätten. Deutschland habe endlich angemessen Verantwortung übernommen; Irak, Syrien, Mali, Ägäis - die Einsätze zeigten, was die Bundeswehr zu leisten bereit sei. Außerdem gebe es viel mehr Geld für Material, Personal, Rüstungsinvestitionen - und zum ersten Mal seit 25 Jahren keine Obergrenze mehr bei der Zahl der Soldaten. Alles in Butter? Alles absolut in Butter unter Ursula von der Leyen.
Und alles bestens vorbereitet, um jetzt auf die Menschen sprechen zu kommen. Auch das beste Material und das stärkste Bündnis nämlich seien "einfach sinnlos", wenn man sich nicht um die Menschen kümmere, die eine Armee erst ausmachen würden. Deshalb habe sie, habe das Ministerium unter ihr begonnen, sich um die Vereinbarkeit von Dienst und Familie, um Militärseelsorger oder auch um die Prinzipien der Inneren Führung zu kümmern. Dies sei zwar immer und ganz grundsätzlich sehr wichtig. Aber die "Ereignisse von Pfullendorf" zeigten nun, dass der Umgang miteinander wirklich kein Randthema mehr sei für die Truppe. Im Vorfeld hat es Kritik am Workshop gegeben; seit Pfullendorf ist klar, dass niemand Derartiges noch einmal wiederholen würde.
Zumal von der Leyen, jetzt beim aktuellen Skandal angekommen, keine Zweifel daran lässt, wie sie die Affäre einordnet. "Für die große Mehrheit der Truppe lege ich jederzeit meine Hand ins Feuer", betont die CDU-Politikerin. Umso schlimmer aber sei es, "wenn Einzelne - eine kleine Minderheit - gegen die Menschenwürde und schwer gegen die Kameradschaft verstoßen". Es gebe für alle in der Bundeswehr klare Koordinaten und Vorgaben. Ereignisse wie die in Pfullendorf aber zeigten, dass diese Prinzipien nicht immer gelebt würden. "Es beginnt bei schäbigen Witzen, geht über in herabwürdigende Bemerkungen bis hin zu widerwärtigem Verhalten", schimpft von der Leyen. "Es sind bestürzende Zeichen, für einen Mangel an Führung, Haltung und Kultur."
Die Ministerin belässt es nicht dabei, die Rituale und Praktiken zu kritisieren. Sie greift vor allem die Vorgesetzten an, die das geduldet haben. Ja, es gebe den Dienstweg, die Vorgesetzten, den Wehrbeauftragten. "Aber wenn der Dienstweg versagt, verharmlost oder versteckt, wenn Vorgesetzte mauern, dann zeigt mir Pfullendorf, dass es einen direkten Draht zu einem Ombudsmann oder viel wichtiger noch zu einer Ombudsfrau geben muss." Ebendiese gebe es zwar schon, aber sie sollen weiter gestärkt werden.
Dabei erläutert die Ministerin auch, warum ihr das Thema überhaupt so wichtig ist - und warum aus ihrer Sicht der Workshop genau zur richtigen Zeit kommt. Sexuelle Orientierung und Identität nämlich spielten für Tausende Angehörige der Bundeswehr eine zentrale Rolle im Leben. "Sie wollen als Mensch, so wie sie sind, angenommen und respektiert werden." Das sei der Grund, den die Spitze des Verteidigungsministeriums ernst nehmen müsse. Genauso ernst jedenfalls wie alle anderen Themen, die die Truppe tagtäglich beschäftigen würden. "Es sind gerade all diese unterschiedlichen Charaktere und Talente, die uns stark machen", versichert die Ministerin. "Ob sie nun schwul, lesbisch, transsexuell oder heterosexuell sein mögen - sie sind uns mit ihrem Können willkommen." Trotz des Soldatengesetzes, das alle Soldaten verpflichte, "die Würde, die Ehre und die Rechte" aller Kameraden zu achten, gebe es auch im Jahr 2017 viel zu viele Fälle, in denen genau das nicht passiere. Sei es nun ein Fallschirmjäger, der seine Homosexualität verheimliche, weil er befürchte, "als Weichei verspottet zu werden"; sei es eine lesbische Mutter, die sich vom Chef anhören müsse, dass "die Nation deutsche Kinder" brauche, von Mutter und Vater. "Es kommt immer noch zu häufig vor", klagt von der Leyen, "dass Menschen in der Bundeswehr ein Leben unter Verleugnung oder unter besonderer Beobachtung führen müssen."
Derart deutlich hat wohl kein Kabinettsmitglied das Thema je angesprochen. Nach der Rede der Ministerin ist der Workshop denn auch hinter verschlossenen Türen fortgesetzt worden. Derweil kam aus Pfullendorf die Nachricht, die dortige Staatsanwaltschaft erwarte eine umfassende Aufklärung. "Wir haben nur einen Teil des Verfahrens", sagte eine Sprecherin. Insbesondere Informationen zu Fällen sexueller Nötigung würden bislang fehlen. Nachlieferungen also seien unumgänglich.