Sönke Neitzels neues Bundeswehr-Buch:War da nicht was mit Wehrmacht?

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Neuanfang, elf Jahre nach Kriegsende: Soldaten marschieren im November 1956 nach der Begrüßung durch den Bürgermeister durch Murnau in ihre neue Kaserne. (Foto: dpa/SZ Photo)

Der Militärhistoriker Sönke Neitzel erzählt die Geschichte der Bundeswehr auf wenig Platz, dennoch fallen beim Thema Traditionspflege eine deutliche Leerstelle und einige Verkürzungen auf.

Rezension von Jakob Knab

„Sönke Neitzel erzählt die Geschichte der Bundeswehr seit 1955, verfolgt ihre Wandlungen und analysiert die Herausforderungen der Gegenwart“, heißt es beim Verlag C. H. Beck. Diese auf 120 Seiten kondensierte Neuerscheinung basiert auf Neitzels Standardwerk „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik“ (Ullstein, 2020). Im Prolog stellt der Professor für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam die Frage, welche Identität die Soldaten haben sollten, welche Traditionen. Neitzel zufolge existiert die Bundeswehr in einer doppelten Ambivalenz. In den Fünfzigerjahren wurde der Begriff „neue Wehrmacht“ in vielen Bundestagsdebatten benutzt. Auch bei der Gründungsfeier am 20. Januar 1956 in Andernach war von der „neuen Wehrmacht“ die Rede. Am 1. April 1956 wurde die Bezeichnung „Bundeswehr“ verbindlich eingeführt. Monate später, am 21. Juli 1956, trat das Wehrpflichtgesetz in Kraft. Doch es wird beiseitegeschoben, dass im Volksmund etliche Jahre noch von der „neuen Wehrmacht“ die Rede war.

Der Streit entzündete sich an Kasernennamen

Die Lektüre hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Die Einsätze „out of aerea“ sind Neitzels bevorzugtes Gebiet; der „Einsatz am Hindukusch“ nimmt breiten Raum ein. Auf der anderen Seite fallen verkürzte Perspektiven auf, wenn es um die Geschichtspolitik und die Traditionspflege in der Bundeswehr geht. Neitzels Fehlleistung wird markiert durch die irrige Sicht, die Bundeswehr sei „aus dem Nichts“ aufgestellt worden. Indes: Die Rede von der „Schöpfung aus dem Nichts“ (creatio ex nihilo) gehört zur Theologie. In den Kontinuitäten und Brüchen der Geschichte jedoch herrscht kein machtpolitisches Vakuum, kein Niemandsland, keine Stunde null. Mythengeraune dient Neitzels Entlastungsnarrativ; denn sonst hätte er sich kritisch dazu äußern müssen, warum an die Wehrmachtstradition angeknüpft wurde.

Sönke Neitzel: Die Bundeswehr. Von der Wiederbewaffnung bis zur Zeitenwende. Verlag C.H. Beck, München 2025. 128 Seiten, 12 Euro. E-Book: 9,99 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Im Blick auf den Personalgutachterausschuss (PGA) – ein Gremium der Jahre 1955–1957, das dazu beitragen sollte, die Bundeswehr von Führungspersonen freizuhalten, die durch ihr Verhalten in der Ära des Nationalsozialismus belastet waren – meint Neitzel, dass es bei den kriegsgedienten Soldaten der Bundeswehr – „soweit wir bislang wissen“ – keine prominenten Täter gab. Hier wird Admiral Rolf Johannesson übergangen, der als NS-Gerichtsherr im Endsiegterror vom April 1945 die Todesurteile gegen die fünf Männer von Helgoland bestätigte. Aber auch diese soldatischen Persönlichkeiten schlüpften durch jenes weite Netz des PGA: Walter Gericke, Reinhard Hauschild, Wilhelm Hess, Konrad Knabe, Hans Kroh, Bernhard Rogge und Karl Wilhelm Thilo. Keiner dieser Namen findet sich bei Neitzel. Als NS-Gerichtsherr bestätigte Rogge Anfang Mai 1945 Todesurteile gegen drei Matrosen. Bis Ende März 2018 war er für die Bundeswehr traditionswürdig („Admiral-Rogge-Pokal“).

Neitzel geht außerdem auf Benennungen ein, die auf den Ersten Weltkrieg Bezug nahmen, namentlich auf Georg Bruchmüller und Konrad Krafft von Dellmensingen. Keine Silbe darüber, dass der „Durchbruchmüller“ – seine Schlachten waren erfolgreich, da die Giftgase Blaukreuz und Grünkreuz zum Einsatz kamen – von der Kriegspropaganda verklärt wurde. Im November 2022 wurde der Traditionsname Bruchmüller an der ehemaligen Kaserne Lahnstein getilgt. Und: Krafft von Dellmensingens Antisemitismus sei durch eine wissenschaftliche Studie ans Licht der Öffentlichkeit gekommen, so Neitzel. Beim Leser wird der falsche Eindruck erweckt, die Bundeswehr habe aus den neu entdeckten rassistischen Entgleisungen des Kasernenpatrons Konsequenzen gezogen. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges forderte Dellmensingen den „Vernichtungskrieg gegen das Weltjudentum“. Was Neitzel hier verschweigt: Das Buch des Historikers Thomas Müller erschien 2002. Erst nach verfassungspatriotischen Anstößen wurde der Schriftzug „Krafft von Dellmensingen“ Ende Juni 2011 von der ehemaligen Kaserne von Garmisch-Partenkirchen entfernt.

Der Streit um Generaloberst Dietl prägte die Debatte

Der Streit um die Traditionspflege entbrannte laut Neitzel an den Liegenschaften in Füssen (Dietl-Kaserne) und Mittenwald (Kübler-Kaserne). Dieser öffentliche Meinungskampf begann tatsächlich im Februar 1988; es ging allein um die Generaloberst-Dietl-Kaserne. Mit der Taktik des hinhaltenden Abwehrkampfes wurde Eduard Dietl von der Hardthöhe über die Runden gerettet. Was Neitzel nicht erwähnt: Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) hatte den Antrag der Gebirgsjäger abgelehnt, die Kaserne in Füssen nach Dietl zu benennen; denn als ehemaliger Offizier für wehrgeistige Führung wusste er um Dietls truppendienstliche Verantwortung für die Feldstraflager. Die „Aktion Namensgebung“ (unter anderem nach Dietl, Ludwig Kübler, Helmut Lent) fand erst unter Minister von Kai-Uwe von Hassel (CDU) statt. Zu Recht erfährt der Leser, dass all die Jahrzehnte an Küblers Kriegsverbrechen keine Zweifel bestanden. Doch erst, als man in der Zivilgesellschaft auf das Buch von Friedrich Andrae „Auch gegen Frauen und Kinder“ (Piper, 1995) stieß, gab dies im selben Jahr den finalen Anstoß zur Umbenennung in Karwendel-Kaserne. Ebenfalls seit 1995 heißt die Kaserne in Füssen nun Allgäu-Kaserne.

Gute Laune bei der Attacke auf ganz Europa: Besuch des Chefs des Wehrmachtsführungsstabes Generaloberst Alfred Jodl (rechts) bei Generaloberst Eduard Dietl an der Lapplandfront im November 1942. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Das „Aufrollen der Traditionsfrage“ fand laut Neitzel erst in den 1990er-Jahren statt. Doch schon vom Frühjahr 1988 an wurden beim damaligen Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) Freiburg Kurzstudien zu allen Traditionsnamen in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse blieben unter Verschluss. Daher richtete die Fraktion der Grünen ein Jahr später eine Anfrage an die Bundesregierung. Es ging um die „Haltung der Bundeswehr zu Traditionen der Wehrmacht und des Nationalsozialismus“ sowie explizit um die MGFA-Studie zu Dietl.

Sinnstiftende Benennungen nicht erwähnt

Neitzel übt Kritik an der öffentlichen Debatte, wo die Traditionsarbeit zumeist auf Verfassungspatriotismus reduziert wird. Kein Wort verliert er über jene sinnstiftenden und identitätsbildenden Benennungen nach Feldwebel Anton Schmid (Kaserne Blankenburg, 2016), der Ikone des Rettungswiderstandes, nach Hans Scholl (Audimax der Sanitätsakademie München, 2012), dem Kopf der Weißen Rose, oder nach dem aufrechten, mutigen und couragierten Sanitätsfeldwebel Christoph Probst (Kaserne München-Hochbrück, 2019).

Die Kernaussage aus den Richtlinien zum Traditionsverständnis (2018) lautet im Sinne der Inneren Führung: „Die Bundeswehr ist freiheitlichen und demokratischen Zielsetzungen verpflichtet. Für sie kann nur ein soldatisches Selbstverständnis mit Wertebindung, das sich nicht allein auf professionelles Können im Gefecht reduziert, sinn- und traditionsstiftend sein.“ Mit Blick auf die „Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr“ formuliert Neitzel seine geschichtspolitische Zielsetzung so: „Wie sehen denn nun die passenden Vorbilder für einen Panzerkommandanten oder einen Grenadier aus, dessen Aufgabe im Ernstfall ist, in Litauen für das westliche Bündnis zu kämpfen, zu töten und notfalls zu sterben?“

Jakob Knab hat zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichtspolitik und Traditionspflege der Bundeswehr vorgelegt. Er lebt in Kaufbeuren.

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