Nachdem die Wehrmacht, dieses "herrliche Instrument" (so der ehemalige Stoßtruppführer Ernst Jünger), 1945 mit dem ehemaligen Gefreiten Adolf Hitler glorreich untergegangen war, gestaltete sich die Zukunft für das deutsche Militär schwierig.
Nichts zeigt das besser als die Rede, die Wilhelm Pieck im Dezember 1944 im Moskauer Exil vor Führungsoffizieren der Roten Armee hielt. Pieck, der 1917 vor einem Kriegsgericht gestanden hatte und vernünftigerweise desertiert war, beklagte fünf Monate vor der bedingungslosen Kapitulation, dass Deutschland bald "völlig entwaffnet" werde. Das müsse "im Interesse des dtsch. Volkes" verhindert werden, wie es in den Vortragsnotizen heißt.
Der KPD-Vorsitzende kündigte in Moskau die Wiederbewaffnung an: "Wir werden wieder eine Wehrmacht haben - aber eine demokratische - dem Frieden und den Interessen des Volkes dienende."
Die Rote Armee nahm dann Berlin ein, und die deutsche Hand, die wahlweise verdorren oder abfallen sollte, falls sie je wieder eine Waffe anrührte, begann recht bald mit der Aufrüstung, im Osten mit Hilfe der Sowjetunion und im Westen mit amerikanischer Bruderhilfe. Der Kalte Krieg begünstigte die Remilitarisierung, aber manchmal musste doch eine neue Spielart der Erkenntnistheorie bemüht werden, so als SED-Chef Walter Ulbricht sich von den "amerikanischen und westdeutschen Imperialisten" absetzen wollte: "Eine Waffe und eine Waffe ist zweierlei."
Die Gefahr aus dem Westen, gegen die die Kasernierte Volkspolizei, die spätere Nationale Volksarmee (NVA), aufgestellt werden sollte, war im Westen jene aus dem Osten. Konrad Adenauer bot bereits in seinen ersten Regierungsmonaten einen deutschen, das heißt westdeutschen Verteidigungsbeitrag an.
Flugblätter der Friedensbewegung wurden gefälscht
In einem Besprechungsplan wollten die ehemaligen Wehrmachtsgeneräle Foertsch, Speidel und Heusinger Anfang 1950 die "Frage eines Wehraufbaus in Westdeutschland" klären.
Da wird nicht nur die Weltlage untersucht, da geht es auch darum, dass die Prozesse gegen die selbstverständlich in Anführungszeichen gesetzten "Kriegsverbrecher" aufhören, dass kritische Zeitungen eingestellt werden, der "landesverräterische Pazifismus" ebenso wie das im Grundgesetz garantierte Recht auf Kriegsdienstverweigerung bekämpft wird.
Die Bundeswehr, die fünf Jahre später gegründet wurde, ließ es sich angelegen sein, die landesverräterischen Ostermarschierer zu diskreditieren, sie regelrecht zu unterwandern. So wurden Flugblätter der Friedensbewegung gefälscht und Märsche so genau beobachtet, dass sich anhand von "vorgelegten Fotos aus den Nachtquartieren" die "sittlich-moralische Gefährdung" der Marschteilnehmer beweisen ließ.
Für 1961, als die Bundesrepublik doch schon zwölf Jahre der einzige wahrhaft demokratische Staat auf deutschem Boden sein wollte, dann doch überraschend - oder auch nicht.
Der Band mit den 217 Dokumenten, die Christoph Nübel mit bewunderungswürdigem Fleiß zur deutsch-deutschen Militärgeschichte vom Kriegsende bis 1990 zusammengetragen hat, bildet nicht nur für Spezialisten eine schöne Fundgrube, er zeigt vor allem, wie ähnlich sich die Geschichte in Ost und West manchmal zugetragen hat.
Die Probleme in der DDR waren oft nicht anders als die im Westen, und das nicht nur in der Sicht des deutsch-deutschen Volkssängers Wolf Biermann: "Soldaten sehn sich alle gleich / Lebendig und als Leich."
Im Osten wie im Westen pries man die Schlachten mit Napoleon
Als besonders schwierig erweist sich das militärische Leitbild, schließlich standen für die Ausbildung der neuen Soldaten nur die Offiziere der alten Wehrmacht zur Verfügung. Die "Eidbrecher" vom 20. Juli 1944 galten so wenig, dass der Personalgutachterausschuss 1955 die "künftigen Soldaten" darauf verpflichtet, die "Gewissensgründe der Hitler-Gegner" anzuerkennen.
Lieber berief man sich, wie es der erste westdeutsche Verteidigungsminister Theodor Blank tat, auf die Befreiungskriege gegen Napoleon. Ulbricht hielt es weiter im Osten nicht anders, als er auf die Völkerschlacht von Leipzig 1813 verwies, den "nationalen Befreiungskrieg".
Der "Landesverrat", der nach dem Willen der Planer außer "Zersetzung" und "Beleidigung" Eingang in die Wehrschutzgesetzgebung finden sollte, wird im Herbst 1962 zum großen Thema, als der Spiegel damit inkriminiert wird. Der Bundeswehrgutachter betrachtet den Artikel "Bedingt abwehrbereit" als "Einbruch in den Geheimbereich der Bundeswehr", den er als "außerordentlich schwerwiegend" bezeichnet.
Ein weiterer Bericht, entstanden nach der gleichzeitig stattfindenden Kuba-Krise, besagt das Gleiche wie der Spiegel, nämlich "dass die Bundeswehr in einem größeren militärischen Konflikt zur Zeit kaum länger als eine Woche kämpfen könnte".
Im Verteidigungsministerium von Helmut Schmidt, einem ehemaligen Oberleutnant der Wehrmacht, wird 1971 "die zunehmende Wehrunwilligkeit" konstatiert.
Stimmungsberichte der Stasi legen nahe, dass sich auch in der zunächst noch sowjetisch besetzten Zone die Wehrbereitschaft nie wie von Pieck und Ulbricht gewünscht ausprägt.
1978 muss der Verteidigungsminister der DDR vortragen, dass seine Leute nicht ganz dem sozialistischen Menschenbild entsprechen, sondern gelegentlich den "Führergeburtstag" begehen und vom "Weltjudentum" faseln. Im Westen sieht's nicht viel besser aus, wenn besoffene Nachwuchsoffiziere der Bundeswehrhochschule München das Horst-Wessel-Lied grölen und vom Judenverbrennen tönen.
Der "Ungediente" Hans Apel verbietet 1980 Bundeswehrsoldaten, in Uniform an der Beerdigung des Kriegsverbrechers Karl Dönitz teilzunehmen, muss sich dafür aber noch rechtfertigen. Die Bundeswehr verdankt Apel den ersten historisch halbwegs korrekten Traditionserlass.
In diesem reichen Fundus fehlt es nicht an Kuriositäten wie den 1956 entstandenen "Gedanken zur deutschen Verteidigung", deren Autor beklagt, dass die Naturverbundenheit "geringer als früher" sei, weshalb es für den "deutschen Menschen" im Ernstfall schwierig werden könne, zumal das "Bild eines künftigen Krieges" unklar sei.
Sicherheitshalber ist aber schon vom Einsatz von Atomwaffen "als Feuerschlag, Feuerzusammenfassung oder Bombenteppich gegen Flächenziele" die Rede. Es gab auch Konterbande. Der fromme Gustav Heinemann trat aus Protest gegen Adenauers Aufrüstungspolitik 1950 als Innenminister zurück.
Eine Frauenzeitschrift rief zum Generalstreik gegen die Wiederbewaffnung auf
In der von dem Krypto-Kommunisten Hans Huffzky geleiteten Hamburger Zeitschrift Constanze, der Vorform der Brigitte, erschien im gleichen Jahr ein Artikel, der die Frauen zum Generalstreik gegen die Remilitarisierung aufrief. "Die Frauen müssten nur einmal zeigen, welche Macht in ihrer Hand liegt - und es gäbe keinen Krieg." Schöner Gedanke eigentlich.
In einer Vorlage für Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz wird 1988 eine Emnid-Umfrage referiert, wonach der Dienst in der Bundeswehr noch immer mehrheitlich positiv gesehen werde. Allerdings habe die positive Einschätzung von Wehrdienstverweigerern "weiterhin zugenommen".
Verantwortlich dafür sind Abrüstungsverhandlungen und die weltweite Entspannungspolitik, sodass "die Bedrohung", wie besorgt festgehalten wird, "wiederum gegenüber dem Vorjahr als geringer angesehen" werde. Der Minister bat handschriftlich um "Vorschläge, anschließend Bespr. im Kollegium".
Aber die Vor-Wende-Bundeswehr war da längst ein Unternehmen geworden, dessen Dienstleistungen immer weniger nachgefragt werden. Ein Jahr später fiel die Mauer. Der Wehrdienstverweigerer Rainer Eppelmann wurde 1990 Minister für Abrüstung und Verteidigung, die NVA ging in der Bundeswehr auf.
Korrektur: Das Kürzel NVA stand nicht, wie in der Rezension "Neustart mit Ladehemmung" am 17. Februar auf Seite 13 angegeben, für Nationale Verteidigungsarmee, sondern für die Nationale Volksarmee der damaligen DDR.