Bundeswehr in Afghanistan:Der Kampf nach dem Kampf

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Der Zeitsoldat Robert Sedlatzek-Müller überlebte in Afghanistan eine Bombenexplosion aus nächster Nähe. Von der Bundeswehr fühlt er sich im Stich gelassen - und kämpft einen aussichtslos scheinenden Kampf um eine Entschädigung.

Hanna Ziegler, Stade

Ein grauer Sommertag. Es ist nicht viel los hier, in der abgelegenen Stader Wohnsiedlung. Die Einfamilienhäuser sind 30, vielleicht 40 Jahre alt. In den meisten Fenstern hängen weiße, zugezogene Stores. Sie verbergen den Blick nach innen. Kein Auto fährt durch die schmalen Straßen. Vor dem Haus, in dem die Wohnung des ehemaligen Stabsunteroffiziers Robert Sedlatzek-Müller und seiner Frau liegt, stehen die Mülltonnen sauber aufgereiht nebeneinander. Der ehemalige Soldat braucht Stille, seine Geschichte passt irgendwie in diese Trostlosigkeit. Denn er selbst ist untröstlich.

Einsatz in Afghanistan: Robert Sedlatzek-Müller war 2002 und 2005 am Hindukusch. (Foto: oH)

Der 33-Jährige ist ein höflicher Mann, doch sein Blick ist traurig. Er wirkt ein wenig unsortiert. "Sorry, ich muss jetzt erst mal klarkommen." Gerade hat er wieder einen dieser Anrufe bekommen, die ihn komplett aus der Bahn werfen. "Ich soll 300 Euro Krankenkassenbeitrag monatlich zahlen." Er setzt sich, schüttelt den Kopf und fährt sich mit der Hand übers Gesicht. "Das kann ich mir nicht leisten."

Schnelle, unbürokratische Hilfe versprach ihm 2002 der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Das war kurz nachdem Robert Sedlatzek-Müller bei einer Bombenentschärfung in Kabul dem Tod für einige Sekunden näher war als dem Leben. Heute sitzt er vor dicken Aktenordnern. Briefe von der Wehrverwaltung, Gutachten, Dokumente. Hilfe findet er nicht auf dem bräunlichen Recyclingpapier der Bundeswehr. Sie sind für ihn Belege praktizierter und zermürbender Bürokratie.

Heute glaubt der 33-Jährige Ex-Soldat keinem Politikerversprechen mehr, zu oft hat er die Floskel von der "unbürokratischen Hilfe" gehört. Sein Vertrauen ist mit den Wochen, Monaten und Jahren zu Resignation geworden. Immer wieder schüttelt er den Kopf, wenn er die Papiere durchblättert, wie er es schon etliche Male zuvor getan hat. "Arschloch", entfährt es ihm beim Anblick des mit blauer Tinte unterschriebenen Briefes eines ranghohen Bundeswehrfunktionärs, von dem er sich Beistand erhofft hatte. Stattdessen arrogante Belehrungen. Und wieder Fassungslosigkeit über diese Gleichgültigkeit ihm und seinen Kameraden gegenüber.

Er will nicht um das betteln müssen, was ihm zusteht, will nicht, dass andere Kameraden leiden müssen wie er. Deshalb kämpft er öffentlich um sein Recht: das Recht auf angemessene Entschädigung für das, was er als deutscher Soldat im Ausland erlitten hat.

Seit jenem Mittwoch im März 2002 ist Sedlatzek-Müllers altes Leben vorbei. Er ist in Kabul. Mit seinem Kampfmittelspürhund Idor begleitet er ein Bombenentschärfungsteam aus deutschen und dänischen Soldaten. Sie wollen eine alte SA-3/S-125 Newa-Luftabwehrrakete entschärfen. Ein Überbleibsel aus einem der Kriege, die auf afghanischem Boden geführt wurden. "Alles sicher", ruft der Vorgesetzte ihm zu. Keiner der Soldaten trägt Schutzkleidung. Mit Hammer und Meißel arbeiten die Sprengstoffexperten am Sprengkopf, Sedlatzek-Müller steht nur wenige Schritte entfernt. Dann explodiert die Sprengladung. In dem riesigen Feuerball sterben fünf Isaf-Soldaten. Es sind die ersten zwei deutschen Soldaten, die in Afghanistan ihr Leben lassen, die Oberfeldwebel Thomas Kochert und Mike Rubel.

Acht Jahre später sitzt Sedlatzek-Müller in seinem Wohnzimmer in Niedersachsen und klickt sich durch Bilderordner auf seinem Laptop. Einer dokumentiert die Folgen der Explosion. Maßbänder neben Metallstücken, Maßbänder neben zerfetzten Gliedmaßen. Der Ex-Soldat wird ganz ruhig. "Er hat mein Leben gerettet." Auf dem Bild ist nur noch der Torso eines Menschen zu sehen, er hat die Wucht der Explosion abgefangen. Mit dem Medevac, dem fliegenden Krankenhaus der Bundeswehr, werden die Verletzten nach Deutschland geflogen. Robert Sedlatzek-Müller hört, wie die Ärzte hinter einem Vorhang um das Leben eines Dänen kämpfen. Wie der Kampf ausgegangen ist, weiß er nicht. Niemand will ihm Auskunft erteilen. Bis heute.

Überwältigt von den Erinnerungen

In der Heimat werden seine Brandwunden versorgt, künstliche Trommelfelle werden ihm implantiert. Der durchdringende Ton im Ohr bleibt. Zuerst hat er nachts den Fernseher oder das Radio laufen lassen, um den Tinnitus zu übertönen. Dann kam der Alkohol hinzu. Mit Whiskey betäubte er das Summen, die Fragen, die Schuldgefühle und die verwundete Seele. Niemand kommt mehr an ihn heran. "Live free or die" lässt er sich mit schwarzer Tinte unter die Haut stechen - quer über den Rücken. "Eigentlich bin ich unsterblich, dachte ich mir. Wer so eine Sprengung in zwei Metern Abstand überlebt, muss doch unverwundbar sein."

Doch er ist verletzlich, wird aggressiv und zettelt eine Prügelei mit einem Kameraden an. Schließlich wird er von Idor gebissen, seinem treuesten Gefährten, der ihm niemals von der Seite weicht. Es ist wie ein Weckruf für den Soldaten. "Ich habe das lange Zeit alles verdrängt und für normal gehalten." Jetzt wird ihm klar, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Sieben Jahre nach der Explosion in Kabul, zehn Jahre nachdem er eine hilflose alte Frau in ihren Exkrementen auf einem Dachboden im Kosovo zurücklassen musste, wird er von den Erinnerungen überwältigt.

Mit Anfang 20 geht Robert Sedlatzek-Müller zur Bundeswehr. Es ist der Teamgeist, die körperliche Anstrengung und die Lust am Abenteuer, die ihm am Soldatendasein gefällt. Nach dem Grundwehrdienst verpflichtet er sich als Zeitsoldat. Bald darauf geht er in den Auslandseinsatz auf den Balkan. Er ist damals 21 Jahre alt, sieht zum ersten Mal einen ermordeten Menschen, läuft mit einer geladenen Waffe durch das fremde Land. Viel zu jung sei er dafür gewesen, sagt er heute. Aber er lässt sich nichts anmerken. Um die Bilder zu verarbeiten, trinken die jungen Männer im Camp Dosenbier. "Man hat zwei Optionen: Entweder man redet darüber oder man löscht die Erinnerungen mit Alkohol aus."

Doch zum Reden fehlt meist der Mut. Mit seinen Eltern spricht er nach seiner Heimkehr nicht über die Erlebnisse. "Sollte ich ihnen von irgendwelchen Hilfspaketen erzählen, um sie zu beruhigen, oder von den Massengräbern und meiner Todesangst?" Er macht weiter wie bisher, schweigt, und arbeitet sich in der Hierarchie des Heeres nach oben. Das gibt ihm Halt. Doch innerlich ist er schon damals gebrochen. "Ich habe mich extrem verändert und zurückgezogen", sagt Sedlatzek-Müller. Reflektiert hat er es erst zehn Jahre später.

Er geht wieder in den Einsatz: 2002 und 2005. Immer freiwillig. "Ich war und bin der Bundeswehr gegenüber immer loyal. Für mich ist der Beruf des Soldaten eine Berufung." Der junge Mann steht auf und holt einen Bilderrahmen mit Fotos von jungen Rekruten, die er ausgebildet hat. "Ein Geschenk", sagt er und lächelt stolz. "Ich glaube, andere Ausbilder kriegen so etwas nicht." Er ist beliebt bei den jungen Soldaten, weiß, wie er sie motivieren kann. Ein guter Kamerad, immer fair und pflichtbewusst.

Ständiger Begleiter: Kampfmittelspürhund Idor weicht dem Soldaten nicht von der Seite. (Foto: oH)

Während er seinen Dienst tadellos verrichtet, liegt sein Leben in Trümmern. Die Beziehung zur Mutter seiner Tochter zerbricht, zum Rest der Familie hält er nur sporadischen Kontakt. Sein Leben spielt sich nun vollkommen in der Kaserne ab. Mit seinem Diensthund Idor lebt er auf wenigen Quadratmetern in seiner Stube. "Ich bin teilweise über Monate nicht nach Hause gefahren und dann nur um zu kontrollieren, dass alles okay ist. Gefühle konnte ich nicht zeigen."

Einer von 500, bei denen PTBS diagnostiziert wurde

2009 vertraut er sich zum ersten Mal jemandem an, sucht Hilfe. Auch, weil er seine junge Ehe nicht gefährden will. "Meine Frau macht viel mit", sagt Sedlatzek-Müller und guckt zu Boden. Vor drei Jahren haben sie sich kennengelernt. Sie gibt ihm Halt. Wenn wieder eine Situation eskaliert, dann ist es seine Krankheit, die das mit ihm macht. PTBS heißt sie. "Was das bedeutet, weiß ich erst seit letztem Jahr, mich hat ja niemand aufgeklärt."

Robert Sedlatzek-Müller ist einer von knapp 500 deutschen Soldaten, bei denen im vergangenen Jahr Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert wurde. Nach Angaben der Bundeswehr waren es drei Jahre zuvor rund 80 Neuerkrankte. Tatsächlich lebt wahrscheinlich eine vielfache Zahl von Soldaten mit PTBS. Sie ist eine mögliche Folge traumatischer Erlebnisse, die manchmal erst nach Monaten oder Jahren auftritt.

Nicht immer muss Krieg der Auslöser sein, auch Unfälle oder die Diagnose einer schweren Krankheit können das Verständnis von sich selbst und der Welt erschüttern. Die Betroffenen haben immer wieder Bilder des traumatischen Erlebnisses vor Augen, werden von Albträumen geplagt. Sie sind unkonzentriert und leicht reizbar, schließlich ziehen sie sich zurück und verfallen in ein lethargisches Dasein. Ein langer Leidensweg.

Nach einigem Hin und Her bekommt Robert Sedlatzek-Müller einen ambulanten Therapieplatz im Hamburger Bundeswehrkrankenhaus. Zunächst läuft es gut, er öffnet sich zum ersten Mal, verdrängte Erinnerungen kommen hoch. Doch dann wechselt zweimal der Therapeut. Er fühlt sich verraten und abgeschoben. "Ich war so aggressiv und habe mich mit dem Brieföffner in der Hand auf den Therapeuten zugehen sehen." Aber er bleibt starr. "Seitdem bin ich mit Psychologen auf Konfrontationskurs." Die "Scheiß-egal-Tabletten", wie er die Medikamente nennt, setzt er ab. Albträume aus den verschiedenen Einsätzen vermischen sich, er bekommt eine Nesselsucht.

Seitdem wächst der Groll und die Kriegserlebnisse nagen weiter an ihm. Im April dieses Jahres bricht dann das letzte sichere Gerüst um ihn herum weg. Sein Vertrag als Zeitsoldat läuft aus. Bis zuletzt hatte er daran geglaubt, Berufssoldat zu werden. "Da war alles organisiert und ich bin klargekommen. Jetzt habe ich massive Zukunftsängste, weiß nicht was wird oder wie ich das finanziell alles hinbekommen soll." Er kommt mit dem Übergangsgeld der Bundeswehr gerade so über die Runden, ist auf die finanzielle Unterstützung seiner Frau angewiesen. Derzeit macht er eine schulische Ausbildung zum Erzieher. Seine Konzentrationsschwäche hindert ihn immer wieder am Lernen. Er vergisst so viel: Termine, zu essen, zu trinken.

Zu der ständigen Existenzbedrohung kommt der Alltag, der nur schwer zu bewältigen ist. Menschenmassen erträgt er nicht. Einmal in der Woche, spät abends, geht er Lebensmittel einkaufen. Die Menschen, die er sieht, muss er abscannen. Wer gehört zu wem? Ist er mir freundlich gesinnt? Warum guckt sie so? Panik steigt in ihm auf, Schweißausbrüche folgen. "Ich krieg' das nicht weg, keine Ahnung warum, es ist einfach zu viel."

Wer als Soldat eine Wehrdienstbeschädigung von mindestens 50 Prozent erleidet, hat das Recht, weiterhin bei der Bundeswehr als ziviler Mitarbeiter oder Soldat beschäftigt zu werden. Entscheidungsgrundlage sind medizinische und psychologische Gutachten. Anhand der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" wird der Grad der Schädigung festgelegt.

Verabschiedet wurde das Gesetz 2007 und rückwirkend ein willkürlicher Stichtag festgelegt: der 1. Dezember 2002. Sedlatzek-Müllers Unfall in Kabul ereignete sich jedoch schon im März 2002. Auch sein Schädigungsgrad soll unter 50 Prozent liegen. Nun kämpft er für die Anerkennung seiner gesundheitlichen Verschlechterung und will den Stichtag kippen. Kameraden wenden sich von ihm ab, weil er den Kampf öffentlich führt. "Das macht mich tief traurig. Dabei kritisiere ich nur Missstände, nicht die Bundeswehr selbst." Die Fallschirmjäger seien ein verschworener Haufen, nach außen rede man nicht über Probleme. Mit dieser Regel hat der 33-Jährige gebrochen.

Der ehemalige Offizier Andreas Timmermann-Levanas hat die "Deutsche Kriegsopferfürsorge (DKOF)" gegründet. Er hilft Soldaten wie Sedlatzek-Müller, die um die Anerkennung ihrer Wehrdienstbeschädigung mit den Behörden ringen. "Man wird zwischen Gutachten und Gegengutachten zerrieben. Hilfe kann keine Behörde geben", so Oberstleutnant a. D. Timmermann-Levanas. Wöchentlich kommen neue Fälle in der Organisation hinzu, andere können abgeschlossen werden. Manche erst nach sieben oder acht Jahren. "Viele wollen weiterhin Soldaten sein und fühlen sich verraten und verkauft. Sie haben den Beruf jahrelang mit Leib und Seele gelebt, nur die Seele hat Treffer abbekommen."

Soldaten, die im Einsatz ihr Leben riskiert haben, sind plötzlich auf Sozialhilfe angewiesen, leben am Rande des Existenzminimums. Robert Sedlatzek-Müller will das nicht hinnehmen. "Ich sehe die Bundeswehr in der Fürsorgepflicht." Seine Wunden sind nicht sichtbar, aber sind sie deshalb auch weniger schmerzhaft? Immer wieder muss er Formulare ausfüllen, ständig werden irgendwelche Unterlagen gebraucht. Der 33-Jährige ist überfordert. "Am liebsten würde ich die Briefe gleich in den Müll werfen."

Briefwechsel und etliche Gutachten, die einander widersprechen, rauben den ehemaligen Soldaten Zeit und Kraft. Die Zeit können sie sich finanziell nicht leisten. Sofern es möglich ist, unterstützt die DKOF die Betroffenen mit einer finanziellen Soforthilfe. "Alle Sozialgesetze greifen da ins Leere", so Timmermann-Levanas. Solange die Schädigung nicht offiziell anerkannt ist oder eine Berufsunfähigkeit nicht attestiert wurde, verlangen die Behörden von den ehemaligen Soldaten, dass sie normal arbeiten gehen, obwohl sie krank sind. Doch während die Klagen der Soldaten in den überlasteten Sozialgerichten liegen, hängen sie in der Luft, teilweise über Jahre. "Mir sind Fälle bekannt, da hat jemand im Supermarkt Lebensmittel gestohlen, weil er kein Geld dafür hatte."

Nun soll im September im Bundestag über die ungerechte Stichtagsregelung entschieden werden. Timmermann-Levanas ist optimistisch, dass der Stichtag vom 1. Dezember 2002 nach hinten verlegt wird. Zudem will er, dass der Schädigungsgrad zur Weiterbeschäftigung bei der Bundeswehr auf 30 Prozent abgesenkt wird. "Das steht den Soldaten zu, schließlich waren sie vorher gesund."

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