Bundesverfassungsgericht zum ESM:Wie Karlsruhe den Ausnahmezustand meistert

Gerichtspräsident Voßkuhle bricht eine Russlandreise ab, sechs von acht Richtern werden für das Projekt abgestellt, Urlaube abgesagt - und auch am Wochenende wird gearbeitet: Seit Monaten werkeln Richter und wissenschaftliche Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts am historischen Urteil zum Euro-Rettungsschirm ESM. Von ihrer Entscheidung an diesem Mittwoch hängt die Zukunft des Euro ab.

Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Am Mittwoch um zehn Uhr wird aller Voraussicht nach ein Amtsmeister die Tür zum Sitzungssaal öffnen, er wird "Bitte erheben Sie sich!" rufen, um dann, sobald Ruhe herrscht, mit kräftiger Stimme "das Bundesverfassungsgericht" anzukündigen. Dann werden drei Richterinnen und fünf Richter den Raum betreten, sie werden für einen Augenblick möglichst würdevoll vor den Holzpaneelen Aufstellung nehmen, ohne allzu respektheischend dreinzuschauen, schließlich ist man ein Bürgergericht.

Bundesverfassungsgericht  Euro

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet diesen Mittwoch sein Urteil zum Euro-Rettungsschirm ESM - die Vorarbeiten sind gigantisch.

(Foto: dpa)

In der Mitte Präsident Andreas Voßkuhle, daneben der für dieses Verfahren zuständige Berichterstatter Peter Michael Huber, die anderen nach Dienstalter gestaffelt; ganz außen die Neulinge. Man wird das rote Barett abnehmen und sich erst einmal setzen, bevor die Urteilsverkündung beginnt, auf die diesmal ganz Europa wartet.

Das Verfahren über den Euro-Rettungsschirm ESM und den Fiskalpakt ist einer der Momente, in dem das Gericht an die Öffentlichkeit tritt. Besonders oft kommt das nicht vor, pro Jahr gibt es ein bis anderthalb Dutzend öffentliche Verhandlungen und Verkündungen - ein verschwindend geringer Teil der 6000 Verfahren.

Der große Rest wird im so diskreten wie effizienten Räderwerk eines Gerichtsbetriebs erledigt, wie er sonst nirgendwo in Deutschland zu finden ist: Gut 240 Mitarbeiter scharen sich um die 16 Richter der beiden Senate wie das OP-Personal um den Chefarzt; man reicht die Instrumente und tupft den Schweiß von der Stirn, damit der Chef sich auf den Eingriff konzentrieren kann.

Geradezu schwärmerisch hatte Verfassungsrichter Udo Steiner - seinerzeit zuständig fürs arbeitsintensive Sozialrecht - bei seinem Abschied im Jahr 2007 seine Zeit in der "Königsklasse des Staatsdienstes" gepriesen. "Es war alles verfügbar, was man für seine Arbeit und sein dienstliches Glück benötigt", sei es der Zugriff auf juristische Datenbanken oder die Hilfe eines "universal begabten Hausmeisters", wenn das richterliche Fahrrad einen Platten hatte.

Die "Abfangjäger" von Karlsruhe

Natürlich schwang da eine gewisse Abschiedsmilde mit - zugleich aber beschrieb Steiner damals den besonderen Geist des Gerichts: "Es war mir nie wichtig, wer in diesem Haus welchen Anteil an der Wertschöpfungskette hat. Die einen machen Rechtsprechung, die anderen ermöglichen sie."

Nicht selten besteht die Aufgabe darin, den Richtern Arbeit vom Hals zu halten. Dazu ist beispielsweise das Allgemeine Register da - in Steiners Diktion der "Abfangjäger": Dort werden etwa 9000 Eingaben pro Jahr eingetragen, bei denen sich auf den ersten Blick nicht so recht erkennen lässt, ob dies wirklich eine Verfassungsbeschwerde sein soll. Weshalb die Absender vom Rechtspfleger brieflich um Klärung gebeten werden - mit dem Resultat, dass zwei Drittel dieser Eingaben sich von selbst erledigen.

Was dagegen bis ins "Dezernat" vordringt - das ist die nach Sachgebieten abgegrenzte Arbeitseinheit eines Richters - , gelangt ziemlich bald in die Hände eines wissenschaftlichen Mitarbeiters. Der "Dritte Senat", wie man den Kreis der insgesamt 65 "Hiwis" halb anerkennend, halb kritisch tituliert, spielt eine zentrale Rolle für die juristische Arbeit des Gerichts, so sehr, dass sein Einfluss auf die Entscheidungen des Gerichts mitunter geradezu mythisch überhöht wird - als setzten die Richter nur noch ihre Unterschrift unter den vorformulierten Text ihres Mitarbeiters.

Richtig dürfte folgende Formel sein: Je unproblematischer das Verfahren, desto maßgeblicher das Votum des Mitarbeiters - was vor allem für die 3700 Beschwerden gelten dürfte, die von den Dreier-Kammern ohne schriftliche Begründung als offenkundig aussichtslos abgewiesen werden.

Während sie also im Massengeschäft eher als Abräumer fungieren, werden die Jungwissenschaftler und Justizpraktiker in den großen Senatsverfahren als Vorbereiter eingesetzt. Ein Schriftsatz aus der Feder eines "Hiwis" kann schnell den Umfang einer Dissertation erreichen; das interne Votum im kürzlich entschiedenen Wahlrechtsverfahren umfasste 250 Seiten - geschrieben unter enormem Zeitdruck.

"Ein bisschen eine Zumutung"

Doch in jedem Senatsverfahren kommt irgendwann die Stunde der Wahrheit: die Beratung, bei der nur die Richter zusammensitzen. Da souffliert kein Mitarbeiter. Auf dem Tisch liegt das Votum des Berichterstatters, drum herum sitzen acht starke Egos.

Regierung hat bei Rettungsschirm Bundestagsrechte verletzt

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet diesen Mittwoch sein Urteil zum Euro-Rettungsschirm ESM - die Vorarbeiten sind gigantisch.

(Foto: Uli Deck/dpa)

Im Zweiten Senat ist der Ablauf ritualisiert: Zuerst muss der dienstjüngste Richter das Wort ergreifen (derzeit Sibylle Kessal-Wulff, da sie jünger ist als der gleichzeitig ins Amt gekommene Peter Müller). Der am längsten dienende Richter redet zuletzt. Für den Vorsitzenden Voßkuhle - einen Großmeister des Kompromisses - hat das den Vorteil, dass er die Positionen kennenlernt.

Selten ist diese Situation so eindringlich geschildert worden wie in den anonymisierten Richterinterviews in Uwe Kranenpohls Buch "Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses". Es herrsche dort eine "klösterliche" Überzeugung, berichtet einer: Man nehme die Außenwelt wahr, "aber der Druck geht im Beratungszimmer von meinem Nachbarn aus, der die Argumente hat. Die muss ich entweder entkräften können oder sie drücken mich nieder." Eine intensive Erfahrung, erzählt ein anderer: "Die Beratungszimmer sind ja ganz schön eng - vor allem, wenn es kracht!"

Und das ist nur der Anfang. Sobald man sich auf ein Ergebnis verständigt hat, schreibt der Berichterstatter einen Urteilsentwurf - um dessen Formulierung dann in der sogenannten Leseberatung gestritten wird. Drei Tage dauerte sie im derzeit laufenden Rettungsschirm-Verfahren.

Was da passiert, hat Voßkuhle einmal dezent angedeutet: "Für Wissenschaftler ist die Macht der Acht, das zähe Erarbeiten eines gemeinsamen Textes im Senat, auch immer ein bisschen eine Zumutung", tröstete er seinen Kollegen Udo Di Fabio zum Abschied; dessen Entwurf zum Lissabon-Urteil von 2009 soll, wie man hört, intensiv umgearbeitet worden sein. Oft wird hart um Worte und Formulierungen gerungen, manches Urteil wird dadurch zur echten Kollektivleistung; von der "Handschrift" des federführenden Berichterstatters ist dann nur noch wenig zu erkennen.

Wegen der diversen Verfahren zur Euro-Rettung ist der Ausnahmezustand am Gericht jüngst fast schon zum Normalfall geworden; so müssen sich die Richter nun noch vor der geplanten Urteilsverkündung mit dem Eilantrag des Klägers Peter Gauweiler auseinandersetzen. Der sonst eher kontemplativ anmutende Gerichtsbetrieb in der beschaulichen Übergangsresidenz am grünen Stadtrand Karlsruhes nimmt also Fahrt auf, wie man das sonst nur von Zeitungsredaktionen bei der Nachricht vom Tod des Papstes kennt.

Sechs der acht Richter des Zweiten Senats waren in den vergangenen Monaten arbeitsteilig damit befasst, die verschiedenen juristischen Aspekte für das Urteil zum Rettungsschirm aufzuarbeiten - das folglich trotz der Eile ziemlich umfangreich ausgefallen sein soll. Selbst wer nicht zu den sechs Ko-Bearbeitern gehörte, sagte seinen Urlaub ab.

Im Hintergrund arbeiteten ihnen etwa anderthalb Dutzend wissenschaftliche Mitarbeiter zu, auch an den Wochenenden - freiwillig, denn am großen Gemeinschaftsprojekt will jeder beteiligt sein. Dass die Reserven fast erschöpft waren, merkte man erst, als der Süßigkeitenautomat leer war, berichtet eine Mitarbeiterin.

Wie ansteckend der Korpsgeist am höchsten Gericht wirkt, hat Verfassungsrichter Udo Di Fabio in seiner Abschiedsrede im Frühjahr geschildert. Am 26. Oktober 2011 hatte der Bundestag die neun Mitglieder eines Sondergremiums gewählt, das weitreichende Befugnisse bei Entscheidungen über den Einsatz des Rettungsschirms haben sollte. Die Klage zweier SPD-Abgeordneter folgte postwendend, Voßkuhle brach eine Russlandreise ab, schon am Abend des 27. Oktober traten die Richter zusammen.

Die Beratung dauerte bis 22 Uhr, danach machte seine Sekretärin "aus schwer entzifferbaren handschriftlichen Änderungen einen druckfertigen Text", erinnerte sich Di Fabio, und "las mit wie durch Zauberhand anwesenden Rechtspflegern Korrektur". Um halb zwei Uhr morgens faxten die Sekretärin und die Pressesprecherin die einstweilige Anordnung nach Berlin, das Neuner-Gremium wurde vorerst gestoppt. Da saß Di Fabio mit seinen Mitarbeitern bereits beim Entspannungsbier.

Das sei der allgemeine Geist einer großen Institution, resümierte Di Fabio bewegt - und illustrierte mit einem kleinen Blick hinter die Wand des Beratungsgeheimnisses, wie dieser Geist wirkt. In der Diskussion seien Bedenken aufgekommen, ob man wirklich so mutig wie geplant entscheiden solle. Mit einem einzigen Satz habe eine Richterkollegin allen Kleinmut verstummen lassen: "Wir sind das Bundesverfassungsgericht!"

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