Süddeutsche Zeitung

Bundesverfassungsgericht zu Asylbewerbern:Menschenwürde kostet mehr als 224 Euro

Die Leistungen für Asylbewerber müssen steigen. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Nun steht der Gesetzgeber in der Pflicht. Doch dem bleibt bei der Umsetzung eine entscheidende Lücke.

Wolfgang Janisch

Die Verlesung des Urteils neigte sich bereits dem Ende zu, der Senatsvorsitzende Ferdinand Kirchhof hatte ausführlich referiert, was sich das Bundesverfassungsgericht so vorstellt unter einem menschenwürdigen Dasein. Dann ergriff Susanne Baer das Wort, sie hat das Verfahren federführend als "Berichterstatterin" im Ersten Senat betreut. Und las den Satz, der das Urteil vom Mittwoch in eine neue Dimension katapultierte: "Die fortdauernde Anwendung der verfassungswidrigen Normen ist angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen nicht hinnehmbar."

Ein hölzerner Juristensatz, doch er bedeutet: Die Menschenwürde ist kein Versprechen auf die Zukunft, sie duldet keinen Aufschub, sondern gilt hier und heute. Und sie kostet Geld. "Der elementare Lebensbedarf der Leistungsberechtigten ist in dem Augenblick zu befriedigen, in dem er entsteht", rezitierte Susanne Baer.

Deutlicher hätte das Gericht nicht demonstrieren können, dass das soziale Grundrecht auf eine staatliche Leistung keine bloße Verfassungskosmetik ist, sondern ein hartes Recht, hinter dem ein konkreter Anspruch steht. Denn obwohl die Berechnung des Existenzminimums für Asylbewerber auch nach dem Karlsruher Spruch die Domäne des Gesetzgebers bleibt - in diesem Punkt bleibt das Urteil eng am Hartz-IV-Urteil vom Februar 2010 -, hat das Gericht diesmal Ernst gemacht.

Keine Schonfrist für den Gesetzgeber, in der dieser den Karlsruher Arbeitsauftrag in eine kostengünstige Lösung umbiegen könnte. Sondern eine glasklare und sogar rückwirkend geltende Übergangsregelung: 336 statt 224 Euro pro Monat für alleinlebende Asylbewerber, 260 statt 200 Euro für Jugendliche. Das entspricht ungefähr Hartz IV, abzüglich der Leistungen für den Hausrat. Man werde das Urteil zügig umsetzen, murmelte Annette Niederfranke, Staatssekretärin im Sozialministerium. Und verließ eilig den Saal.

Mit sozialer Wärme sind keine Wähler zu gewinnen

Dass Karlsruhe zum sonst eher vorsichtig eingesetzten Instrument der Übergangsregelung gegriffen hat, mag auch mit politischem Realismus zu tun haben; da sich mit sozialer Wärme für Ausländer wenig Wähler gewinnen lassen, dürfte die Motivation für eine rasche und großzügige Reform eher gering ausfallen. Das zeigt auch die Nonchalance, mit der wechselnde Bundesregierungen das Asylbewerberleistungsgesetz seit seinem Erlass im Jahr 1993 als migrationspolitisches Abwehrgeschütz eingesetzt haben.

Das Niveau der Leistungen, das heute ungefähr ein Drittel unter Hartz IV liegt, blieb zwei Jahrzehnte unangetastet, und die Leistungen wurden allmählich von der Preissteigerung aufgefressen. Zugleich wurde der Zeitraum, für den die Betroffenen mit den niedrigen Beträgen auskommen müssen, unablässig ausgeweitet: von anfangs zwölf Monate auf inzwischen vier Jahre - erst danach werden die Betroffenen überhaupt nur auf Hartz IV angehoben.

Außerdem wurden immer neue Gruppen mit den geringen Beträgen bedacht. Zuerst waren es allein die Asylbewerber - damals freilich knapp 500.000 Personen, die im Haushalt mit 5,6 Milliarden Euro zu Buche schlugen. Heute dagegen ist diese Gruppe mit rund 35.000 der insgesamt etwa 130.000 Leistungsempfänger in der Minderheit. Denn inzwischen versammeln sich unter dem Dach des Gesetzes Zehntausende Kriegsflüchtlinge oder geduldete Ausländer, die nicht abgeschoben werden können. Hinzu kommen deren Familienangehörige.

Diese heterogene Zusammensetzung wird Auswirkungen auf die Leistungen haben müssen, denn der Großteil der geduldeten Ausländer lebt länger als sechs Jahre in Deutschland. Das ursprüngliche Argument, für den Kurzaufenthalt eines Asylbewerbers reichten die geringen Beträge aus, lässt sich auf diese Gruppe jedenfalls nicht anwenden.

Dennoch beteuert das Gericht, für eine Neuregelung habe der Gesetzgeber einen großen Gestaltungsspielraum. Die Höhe der Sätze müsse in einem transparenten Verfahren "realitätsgerecht" anhand des tatsächlichen Bedarfs ermittelt werden - so stand es bereits im Hartz-IV-Urteil. Das Verfassungsgericht übe hier nur eine "zurückhaltende Kontrolle" aus.

Liest man das Urteil allerdings genau, dann stellt man fest: In Wahrheit ist der Spielraum des Gesetzgebers ziemlich gering. Geht man von den Beträgen der Karlsruher Übergangsregelungen aus, ist gewiss Luft nach oben; absenken wird man sie kaum noch dürfen. Das fängt bereits damit an, dass das Gericht die Leistungen - anders als im Hartz-IV-Urteil - als "evident unzureichend" eingestuft hat. Das bedeutet: Es muss nicht nur neu gerechnet, sondern definitiv mehr bezahlt werden.

Zudem hat das Gericht mit der Mär aufgeräumt, das Existenzminimum von Asylbewerbern schütze allein ihre physische Existenz - Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Gesundheit. Der Anspruch umfasse auch "die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben", erläuterte Kirchhof bei der Urteilsverkündung. Also Telefonkosten und Kinokarten.

Menschenwürde darf nicht mit kleinerer Münze gehandelt werden

Hinzu kommt: Weil das Gericht den "tatsächlichen Bedarf" als Grundlage definiert, wird man auch darüber nachdenken müssen, was ein Ausländer im Kampf mit der Bürokratie eigentlich aufwenden muss: die Fahrt zum Amt, den Vorschuss für den Anwalt, die Kosten der Passbeschaffung. Überhaupt ist der "Bedarf" eine rein innerdeutsche Rechengröße - der eher halblaut geäußerte Gedanke, daheim in Afrika kämen die Menschen doch auch mit weniger aus, ist fortan verfassungsrechtlich geächtet.

Vor allem aber hat Karlsruhe ein Argument atomisiert, das gleichsam das Fundament des Asylbewerberleistungsgesetzes war: Niedrige Sozialleistungen dürfen nicht mehr zur Abschreckung von Zuwanderern eingesetzt werden. Die Menschenwürde von Ausländern darf nicht mit kleinerer Münze gehandelt werden, nur weil man keine Anreize für Migranten schaffen möchte.

Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, hält das ohnehin für eine unrealistische Vorstellung: Die Menschen suchten sich Deutschland nicht wegen der Sozialleistungen aus, sondern weil sie - wie Iraner oder Afghanen - dort Landsleute fänden. Oder weil sie der Zufall des Fluchtwegs nach Deutschland führe.

Trotzdem bleibt für Bund und Länder an einem Punkt Raum bei der Umsetzung des Karlsruher Urteils: bei der Frage, ob die Ansprüche mit Geld oder mit sogenannten Sachleistungen erfüllt werden sollen - beispielsweise mit Shopgutscheinen. Abgesehen von Bayern haben die meisten Ländern diese Praxis weitgehend abgeschafft. Eine demütigende Praxis, weil mangelhafte Lebensmittelpakete und schäbige Unterkünfte ebenfalls zur Abschreckung eingesetzt würden, kritisiert Burkhardt. "Flüchtlinge dürfen nicht länger gezwungen werden, in Lagern zu leben." Auch dies sei eine Frage der Menschenwürde.

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SZ vom 19.07.2012/rela
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