Richterwahlen gehören in dieser Republik zu den besonders diskreten Veranstaltungen. Weil die 16 Richter des Bundesverfassungsgerichts mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden - je zur Hälfte in Bundestag und Bundesrat -, gestehen sich die Parteien wechselseitig Vorschlagsrechte zu; die Namen werden hinter den Kulissen ausgehandelt. Das klingt nicht nur nach Hinterzimmer, das ist es auch. Aber in den meisten Fällen funktioniert das Verfahren erstaunlich gut. Und zwar deshalb, weil keine Partei einen fachlich schwachen Kandidaten nach Karlsruhe schicken will, der dort im Wettstreit der juristischen Superhirne nicht mithalten kann. Normalerweise jedenfalls. Nun aber ist ein Streit über die Nachfolge von Johannes Masing entbrannt, dessen Amtszeit abgelaufen ist.
Das Vorschlagsrecht liegt bei der SPD, und Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) möchte dies nutzen, um den ersten Richter mit ostdeutscher Biografie am Bundesverfassungsgericht zu etablieren. Er macht sich für Jes Möller stark, Jahrgang 1961, ein einst von der Stasi verfolgter DDR-Oppositioneller. "Das ist die letzte Chance, einen Ostdeutschen mit einer gebrochenen Biografie in dieses Amt zu bringen", sagte Woidke dem Tagesspiegel. Denn bald gehen die Dissidenten von einst in Rente. Die Gegenkandidaten wirken im Vergleich dazu fast konventionell. Rheinland-Pfalz würde gern Lars Brocker nach Karlsruhe schicken, dem Vernehmen nach eher ein Parteigewächs, derzeit Präsident des Oberverwaltungsgerichts. Und Berlin wirbt für Martin Eifert, Professor an der Humboldt-Universität.

Nach der Logik der politischen Ämtervergabe ist Möller ein verführerischer Vorschlag. Ein Ostdeutscher im höchsten deutschen Gericht, das lässt sich vorzeigen. Das wäre ein Signal an den Teil der Republik, in dem man sich bis heute ungerecht behandelt fühlt. Und eine gewisse Erdung für das abgehobene Gericht. Lebenserfahrung zählt doch auch, wenn es ums Recht geht. Oder nicht? Tatsächlich liegt darin ein Körnchen Wahrheit - aber eben nur ein Körnchen. Richtig ist zwar, dass eine gewisse Vielfalt dem Gericht guttut. Zu viele Professoren würden aus dem Gericht eine Wissenschaftsblase machen, zu viele Praktiker aus der Justiz könnten den theoretischen Überbau aus dem Auge verlieren, und mehr als ein, allerhöchstens zwei Politiker verträgt kein Senat.
Die SPD hat das Vorschlagsrecht zu einem Schlüsselposten für zahlreiche Zukunftsthemen
Bisher haben die Parteien streng auf die richtige Reihenfolge geachtet, denn das Verfassungsgericht ist kein Rundfunkrat, der die Vielfalt der Gesellschaft abbilden soll. Zuerst muss die Qualifikation stimmen, erst in zweiter Linie greift das Vielfaltsargument. Die Grünen haben Susanne Baer als erste offen lesbische Verfassungsrichterin nach Karlsruhe gebracht. Sie steht für Vielfalt, gewiss - aber gewählt wurde sie, weil sie eine ausgezeichnete Professorin ist. Sollte also eine Ostbiografie den Ausschlag geben? Im Fußball, wo jeder sich auszukennen glaubt, ginge ein Aufschrei durch die Fangemeinde, wenn Jogi Löw ankündigte: Wir stellen jetzt mal ein, zwei Leute aus der Regionalliga auf, weil sie eine spezielle ostdeutsche Lebenserfahrung mitbringen. Auf dem Platz gilt gnadenlos das Prinzip der Bestenauslese.
Gehört Jes Möller zu den Besten? Woidke sagt, er sei ein "kundiger, kluger, kompetenter Jurist". Denkbar, dass Möller wirklich ein guter Mann für Karlsruhe ist. Aber bisher hat er eben nur in der Regionalliga gespielt. Den größten Teil seiner Berufserfahrung hat er an Verwaltungs- und Sozialgerichten gesammelt, also in der untersten Instanz. Von 2012 bis 2019 war er Präsident des Landesverfassungsgerichts Brandenburg, aber das klingt nach mehr, als es ist. Dort werden im Jahr ein paar Dutzend Verfahren erledigt, derzeit ist es aus Anwälten, erstinstanzlichen Richtern sowie einer Schriftstellerin und einem Filmregisseur zusammengesetzt. Zweimal war Möller als Kandidat fürs Bundesverwaltungsgericht vorgeschlagen, zwei Mal scheiterte er, weil er vom dortigen Präsidium nur als "mäßig" bewertet wurde.
In der SPD gibt es deshalb Stimmen, die Woidkes Wahl für falsch halten, weil sie wissen, dass ein Kandidat ohne sehr große Fachkunde im Verfassungsrecht schlicht keine Chance hat, echte Akzente im Gericht zu setzen. Dazu muss man wissen, dass die Karlsruher Richter keine Frühstücksdirektoren sind, die ihr kundiges Personal nach vorne schicken können. Das Hochamt im Gericht ist die interne Beratung, da sitzen acht Richterinnen und Richter um einen Tisch, und jeder kämpft für sich allein - verbindlich im Ton, aber hart in der Sache. Wer die rund 150 Urteilsbände nicht draufhat sowie die Diskurse der Jura-Fakultäten, der wird nichts reißen. Lebensklugheit allein schießt keine Tore.
Besonders heikel ist die Personalie für die SPD deshalb, weil es um eine Schlüsselstelle für zahlreiche Zukunftsthemen geht: Datenschutz, Hass und Hetze im Netz, Konkurrenz zwischen deutschen und europäischen Grundrechten. Es ist kein Zufall, dass die Vorgänger auf diesem Posten zu den stärksten Richtern in der Geschichte des Gerichts zählen: Wolfgang Hoffmann-Riem, Dieter Grimm, Konrad Hesse.
Auch Johannes Masing hat sich zu einer zentralen Figur im Ersten Senat entwickelt. Gerade wurde das Urteil zu den Überwachungsbefugnissen des Bundesnachrichtendienstes veröffentlicht, für das er als "Berichterstatter" verantwortlich war. Ein 141 Seiten langer, hoch komplexer Text, der dem BND rechtsstaatliche Leitplanken setzt. Es gibt ganz ordentliche Juristen, die schlackern mit den Ohren, wenn sie so etwas nur lesen müssen. Um so etwas zu schreiben, muss man wohl das halbe Berufsleben über diese Fragen nachgedacht haben. Oder, vor ein paar Monaten, zwei Entscheidungen zum "Recht auf Vergessen". Darin geht es erstens um das Gedächtnis des Internets und seine Bedeutung für Persönlichkeitsschutz und Informationsfreiheit, zweitens um das immer komplexer werdende Verhältnis zwischen europäischen und deutschen Grundrechten. Masing arbeitet seit vielen Jahren an diesen Themen, nun endlich hat er die Stränge zusammengeführt - in eine Grundsatzentscheidung, die das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof prägen dürfte.
Jeder in der SPD, der sich einigermaßen auskennt, weiß, dass es einen Kandidaten gibt, der wie gemacht ist für die Stelle. Martin Eifert ist der Fachmann für das Recht der Informationsgesellschaft. Er hat vieles von dem wissenschaftlich durchgearbeitet, was in den nächsten Jahren auf das Gericht zukommen wird, von den juristischen Regeln für soziale Netzwerke bis zur Regulierung der künstlichen Intelligenz. Er genießt einen exzellenten Ruf und könnte einer sein, der in dieser Position etwas bewegen kann. Gegen Überraschungen ist man freilich nie gewappnet. Auch brillante Hochschullehrer sind in Karlsruhe schon gescheitert; eine Professur bietet keine Garantie für einen guten Verfassungsrichter.
Jedenfalls liegt die Messlatte für die Kandidaten sehr hoch, so müssen laut Gesetz drei Posten pro Senat mit Bundesrichtern besetzt werden, etwa vom Bundesgerichtshof oder vom Bundesverwaltungsgericht. Das ist die einzige gesetzliche Vorgabe fürs hohe Richteramt, abgesehen vom Mindestalter - 40 Jahre - und vom Staatsexamen. Landesverfassungsgerichte werden im Gesetz nicht erwähnt.