Es war noch nicht einmal zwölf Uhr, da wusste man, wie ernst die Sache wirklich steht. Sicher, dass die Klagen gegen den permanenten Rettungsschirm ESM und gegen den europäischen Fiskalpakt ernst zu nehmen sind, sehr ernst sogar, das war spätestens absehbar, als das Bundesverfassungsgericht innerhalb weniger Tage nach Verabschiedung der entsprechenden Gesetze Ende Juni durch den Bundestag eine Verhandlung ansetzte - obwohl doch eigentlich nur eine vorläufige Entscheidung über die Eilanträge zu treffen war.
Eine öffentliche Anhörung im Eilverfahren, das gehörte bisher nicht zu den Usancen des Gerichts, das musste die Bundesregierung also schon als Warnsignal verstehen, dass es diesmal möglicherweise nicht so ausgehen könnte wie sonst: mit ein paar Vorgaben zur Parlamentsbeteiligung und einigen mahnenden Worten, dass die rote Linie der europäischen Integration ohne vertiefte demokratische Absicherung nun aber erreicht sei. Aber als Andreas Voßkuhle gegen zwölf Uhr das Wort ergriff, wusste man, dass das Gericht das scheinbar Undenkbare in Erwägung zieht: den dauerhaften Rettungsschirm zu stoppen, jedenfalls vorläufig.
Der Präsident des Verfassungsgerichts wollte zur Mittagsstunde von der Bundesregierung wissen, ob sie es für akzeptabel hielte, wenn sich das Gericht für das Eilverfahren etwas länger als die sonst üblichen drei Wochen Zeit nähme. Denn im Eilverfahren soll das Gericht zwei Anforderungen erfüllen, die sich zuwiderlaufen: schnell zu einem Ergebnis zu kommen, aber gleichzeitig gründlich zu prüfen.
Voßkuhle schwebt eine Art "Zwischenverfahren" vor: eine sorgfältige Prüfung im Eilverfahren, deren Ergebnis offenbar das Urteil in der Hauptsache schon vorwegnehmen soll. Denn das Gericht sei sich bewusst, wie eine Einstweilige Anordnung - und sei sie noch so vorläufig - gerade im Ausland aufgenommen würde. Zum Beispiel mit der Titelzeile "Euro-Rettung gestoppt".
Entscheidung wohl erst nach der Sommerpause
Man kann diesem höchstrichterlichen Exkurs erstens entnehmen, dass das Gericht eine solche Anordnung für zumindest nicht unrealistisch hält. Und zweitens, dass das Gericht nicht bereits Ende Juli, sondern erst nach der Sommerpause eine Entscheidung treffen wird. Der SPD-Abgeordnete Peter Danckert, einer der Beschwerdeführer, regte an, das Gericht möge doch den Bundespräsidenten fragen, ob er mit seiner Unterschrift noch etwas länger warten könne. "Aber, Herr Voßkuhle, das haben Sie wahrscheinlich schon im Vorfeld getan."
Bei allem Verständnis des Gerichts für die "große politische Bedeutung" der Rettungsbemühungen: Wenn mit der Ratifizierung der Verträge vollendete Tatsachen geschaffen würden, könnte der "verfassungsgerichtliche Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren in der vorliegenden Konstellation möglicherweise leerlaufen", sagte Andreas Voßkuhle.
Dass in ihren Augen hier nicht weniger als die Demokratie auf dem Spiel stehe, hatten die Kläger zuvor in ihren nicht ganz von Pathos freien Stellungnahmen deutlich gemacht: "Wenn wir aufhören, die Demokratie zu entwickeln, fängt die Demokratie an, aufzuhören", dichtete Roman Huber von der Vereinigung "Mehr Demokratie" - deren Klage sollen sich inzwischen 23.000 Menschen angeschlossen haben. Etwas prosaischer klang der Freiburger Professor Dietrich Murswiek, der als juristischer Vertreter des Dauerklägers Peter Gauweiler schon einige Erfolge in Karlsruhe vorzuweisen hat: "Die sogenannte Euro-Rettung macht Europa ein Stück weniger demokratisch."
Im Kern geht es in Karlsruhe nun um die Frage, ob der dauerhafte Rettungsfonds, der ursprünglich schon zum 1. Juli in Kraft treten sollte, Europa fundamental verändert. Die Bundesregierung allerdings sieht den ESM und den zugehörigen Fiskalpakt nur als eine weitere Rettungsaktion an, welche die eigentlich doch längst vertraglich vereinbarte Stabilität des Euro sichern soll.
"Der ESM stellt einen dauerhaften verlässlichen Mechanismus zur Bewältigung von Finanzkrisen dar", dozierte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Vor allem sei das Spannungsfeld zwischen europäischer Geldpolitik und nationaler Wirtschaftspolitik zu lösen. Für Murswiek dagegen verändert sich mit diesen beiden Verträgen der Charakter der EU: Sie verwandelten die EU in eine Haftungs- und Transferunion. Nach dem ersten Karlsruher Rettungsschirm-Urteil vom September 2011 sei aber das sogenannte Bail-out-Verbot der EU-Verträge (das eine Vergemeinschaftung der Schulden untersagt) dazu da, die Demokratie zu sichern.
Anders ausgedrückt: Wenn innerhalb der Währungsunion die nationale Haushaltsautonomie der Parlamente gewährleistet bleiben sollte, dann dürften diese Haushalte nicht einem europäischen Haftungsautomatismus unterworfen werden.
Ob dies so ist, wird unter anderem von der Frage abhängen, für wie viel Geld Deutschland eigentlich haftet. Im ESM ist ein deutscher Haftungsanteil von 190 Milliarden Euro veranschlagt. Das wäre ungefähr im Rahmen dessen, was Karlsruhe vergangenes Jahr noch für tolerabel hielt. Damals sprach das Gericht von einer Obergrenze: Der Haushalt darf jedenfalls nicht in einem Maße in Anspruch genommen werden, der das Parlament auf Dauer handlungsunfähig machen würde. Allerdings klangen auch bei Voßkuhle Zweifel durch, ob man den permanenten Rettungsschirm ESM wirklich isoliert betrachten darf - oder ob es nicht "Summierungsrisiken" gebe. Denn der Vertrag enthält beispielsweise Nachschusspflichten, die Deutschland treffen könnten, wenn andere Beteiligte ausfallen.
Außerdem existieren parallel zum ESM weitere Rettungsmaßnahmen, darunter der provisorische Rettungsschirm EFSF, das Griechenland-Rettungspaket oder der deutsche Anteil an den von IWF und EZB übernommenen Risiken. Murswiek jedenfalls kommt auf 900 Milliarden Euro aus den diversen Rettungsmaßnahmen - "eine Dimension, die parlamentarisch nicht mehr steuerbar ist".
Die juristischen Vertreter der Linken, Andreas Fisahn und Hans-Peter Schneider, rechnen gar mit zwei Billionen. Vor diesem Hintergrund, machte der Leipziger Professor Christoph Degenhart deutlich, helfe auch die Einschaltung des Bundestags nicht weiter, weil ein derart immenses Haftungsrisiko das Budgetrecht des Parlaments aushöhlen würde. Beteiligungsrechte des Bundestags seien zwar begrüßenswert. Sie seien aber kein Ersatz für den Verzicht auf Haushalts-Gestaltungsrechte. Weil dies einen Verzicht auf Souveränität bedeutete.