Natürlich kann man sich das Bundesverfassungsgericht als eine Institution vorstellen, das wie mit einer Panoramalinse das große Ganze im Blick hat. Aber weil Grundrechte nun mal in jedem Winkel der Gesellschaft bedroht sind, verfügt das Gericht am Karlsruher Schlossplatz auch über ein Zoomobjektiv, mit dem es verborgene Gefährdungen sichtbar machen kann. An diesem Dienstag richtete sich der Blick auf eine dieser Schattenzonen des Menschseins, auf Einrichtungen, in denen Patienten mit psychischen Störungen untergebracht sind, mit Demenz oder geistiger Behinderung. Die bittere Realität: Manche von ihnen müssen, zum eigenen Schutz, gegen ihren Willen ärztlich behandelt werden – weil ihnen die Einsicht fehlt, dass sie sich durch ihre Weigerung selbst Schaden zufügen.
Solche Zwangsbehandlungen sind unter engen Voraussetzungen erlaubt, das hat das Bundesverfassungsgericht bereits 2016 entschieden. Medikamente dürften den Patienten notfalls auch gegen ihren Widerstand verabreicht werden, auch operative Eingriffe sind möglich – vorausgesetzt, ihre Weigerung sei nicht Ausdruck ihres frei gebildeten Willens, sondern einer psychischen Krankheit. „Die staatliche Gemeinschaft darf den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst überlassen“, argumentierte das Gericht damals.
Eine Art Gefangenentransport eines kranken Menschen
Der entsprechende Paragraf ist daraufhin geändert worden, aber übrig geblieben ist eine Frage, die auf Außenstehende wie ein winziges Detail wirken mag, aber für Betroffene existenzielle Folgen haben kann. Das Bürgerliche Gesetzbuch erlaubt eine solche „ärztliche Zwangsmaßnahme“ ausschließlich stationär, also einzig in einem echten Krankenhaus. Wenn also, wie im Karlsruher Fall, eine an paranoider Schizophrenie leidende Patientin ihre monatliche Dosis benötigt, dann muss sie zwingend aus dem sicheren Umfeld der Wohneinrichtung in die Klinik gebracht werden, notfalls „fixiert“, also praktisch gefesselt – eine Art Gefangenentransport eines kranken Menschen.
Aus Sicht ihres Betreuers ist das eine unnötige Qual, die regelmäßig zu einer Retraumatisierung führe. Er hat daher den Antrag gestellt, sie stattdessen in der Wohneinrichtung zu behandeln, was dort auf Krankenhausniveau möglich sei. Das andere Karlsruher Gericht, der Bundesgerichtshof, hält seinen Antrag für begründet und hat deshalb das Verfassungsgericht angerufen, um den Paragrafen für verfassungswidrig erklären zu lassen. Und bereits der Umstand, dass der Erste Senat des Gerichts dafür eine seiner seltenen mündlichen Verhandlungen angesetzt hat, deutet darauf hin, dass es auch dort Zweifel an der starren Krankenhaus-only-Regel gibt.
Das Justizministerium sieht die stationäre Behandlung als Schutzinstrument
Wer freilich glaubt, dem Gesetzgeber sei hier einfach nur ein Fehler unterlaufen, den konnte Ruth Schröder eines Besseren belehren. Die Ministerialrätin im Bundesjustizministerium erläuterte dem Gericht, der Paragraf sei nichts anderes als „eine Sicherung mit Netz und doppeltem Boden“. Wäre Zwangsmedikation ein Mittel der Wahl auch innerhalb der Wohneinrichtung, dann „würden Zwangsbehandlungen in größerem Umfang möglich“. Deshalb habe man die Hürde sehr hoch gelegt. „Wir haben die Sorge, dass sich ein ganz kleines Loch in der Schutzmauer rasch ausweiten kann und zu einem Dammbruch führt.“
Die Sorge ist, ein allzu einfaches Verfahren könnte dazu führen, dass Patienten häufiger ruhig gestellt werden, wenn man für die entsprechenden Medikamente nur mal kurz über den Flur muss. Man sollte hier jedenfalls nicht von „wohltätigem Zwang“ sprechen, warnen mehrere Psychiater eindringlich in einem aktuellen Aufsatz der Zeitschrift Recht und Psychiatrie: „Die Behandlung unter Zwang zerstört häufig das Vertrauen in die Behandelnden und damit die Grundvoraussetzung für eine sinnhafte Behandlung überhaupt.“ Würden solche Zwangsbehandlungen auf die ambulante Ebene ausgeweitet, werde dieses Misstrauen zunehmen.
Wie weit geht die „Schutzpflicht“ des Staates?
Nun klangen die Fragen aus den Reihen des Gerichts nicht so, als wollten sie die Schutzmauer vollständig abreißen. Der Schutz betreuter Menschen vor solchen Zwangsmaßnahmen sei „einer der grundrechtssensibelsten Bereiche des Erwachsenenschutzes“, sagte Gerichtspräsident Stephan Harbarth – er ist zugleich als Berichterstatter für das Verfahren zuständig. Der Staat habe hier eine „Schutzpflicht“ zu erfüllen.
Aber das Gericht ließ ausführlich die Praxis zu Wort kommen – und von dort kamen durchaus nachdenkliche Antworten. „Das Krankenhaus ist sicher oft der richtige Weg, aber nicht zwingend der einzige, um eine korrekte ärztliche Behandlung zu gewährleisten“, sagte Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Ältere und demente Patienten zum Beispiel hätten ein hohes Risiko, in einer neuen Umgebung in einen Zustand der Verwirrtheit zu geraten.
Kay Lüttgens vom Bundesverband der Berufsbetreuer*innen teilte zwar die Einschätzung der Regierung, man müsse sich vor Konzepten hüten, die am Ende zur Ausweitung von Zwangsbehandlungen führten. Doch auch er hielt Konstellationen für denkbar, in denen dieser Zwang im Krankenhaus schlimmere Auswirkungen habe als in der Wohneinrichtung. Ulrich Langenberg von der Bundesärztekammer wies darauf hin, dass es hier ein breites Spektrum von Patienten gebe – Menschen mit psychischen Erkrankungen, mit geistiger Behinderung oder mit Demenz. Das spricht aus seiner Sicht gegen eine pauschale Regelung. „Ich glaube, dass es da Raum geben sollte, den Einzelfall zu würdigen.“
Das klang schon wie ein vorweggenommenes Urteil, das freilich erst in einigen Wochen oder Monaten zu erwarten ist. Interessant an der Verhandlung war zudem ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch die Anhörung zog. Um Kosten und Nutzen der Zwangsbehandlungen abschätzen zu können, müsste man gesicherte Daten haben – die aber nicht vorhanden sind, wie viele Fachleute bestätigten. Eine Nahaufnahme, wie sie das Karlsruher Gericht vorgenommen hat, war also überfällig.