Süddeutsche Zeitung

Bundesverfassungsgericht:Karlsruher Richter rütteln am Betreuungsgeld

  • Am Bundesverfassungsgericht verdichten sich Zweifel daran, dass der Bund für die Einführung des Betreuungsgelds zuständig war.
  • Zuständig ist der Bund bei der sogenannten "konkurrierenden Gesetzgebung" nur, wenn ein Gesetz zur "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" erforderlich ist.
  • "So ist das Betreuungsgeld doch gar nicht konstruiert", wirft Richter Reinhard Gaier ein. Gezahlt werde es auch dort, wo ein Überangebot an Betreuungsplätzen bestehe.
  • Ausgerechnet die CSU, die das Betreuungsgeld durchboxte, erkämpfte einst die Schwächung des Bundes in solchen Fällen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Irgendwie hatte es für die bayerische Staatsregierung schon nicht gut angefangen. Zum Auftakt der Anhörung zum Betreuungsgeld stellte Vizepräsident Ferdinand Kirchhof, dem Karlsruher Ritual entsprechend, die Anwesenheit im Gerichtssaal fest - und vergaß ausgerechnet den Freistaat Bayern. Also den Hauptbetreiber des Betreuungsgeldes und, aus bayerischer Sicht, den einzig aufrechten Verteidiger.

Denn das Bundesfamilienministerium, das zuständigkeitshalber das Gesetz gegen die Klage aus Hamburg in Schutz zu nehmen hatte, galt den Bayern als wenig zuverlässig. Ministerin Manuela Schwesig (SPD) hatte das Betreuungsgeld einst bekämpft, und ihr nach Karlsruhe entsandter Staatssekretär Ralf Kleindiek hatte in seiner Hamburger Zeit sogar an der Klage des Stadtstaats mitgearbeitet. "Unter besondere Beobachtung" wollte man Kleindieks Karlsruher Auftritt stellen, die bayerische Staatsministerin Emilia Müller saß anderthalb Meter hinter ihm. Und dann wurde sie erst einmal übersehen.

Aber gut, nur ein kleiner Lapsus des Vizepräsidenten, der rasch korrigiert wurde. Keine Absicht, sagte Kirchhof. Und keine Wertung.

Das Betreuungsgeld ist wohl eher Ländersache

Und tatsächlich schien es für Bayern zunächst ganz gut zu laufen. Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem der Erste Senat auf die erste zentrale Frage des Verfahrens zu sprechen kam: War der Bund überhaupt zuständig für die Einführung des Betreuungsgeldes? Ein Richter nach dem anderen meldete sich zu Wort, mit Fragen, die sich am Ende zu einem lauten und nicht mehr zu überhörenden Zweifel verdichteten: Das Betreuungsgeld ist wohl eher Ländersache - der Bund hat seine Kompetenzen überschritten.

Das 2013 auf Betreiben der CSU eingeführte Betreuungsgeld, muss man dazu wissen, sollte eine Art Ersatzleistung sein. Mit der Zahlung von monatlich 150 Euro soll Eltern, die ihr Kind nicht in einer öffentlich geförderten Einrichtung unterbringen, ein Ausgleich dafür gewährt werden, dass sie nicht von den beträchtlichen Steuergeldern profitieren, die in jedem Kitaplatz stecken - 10 000 bis 12 000 Euro pro Jahr. Gezahlt wird für Kinder zwischen 15 und 36 Monaten, und zwar unabhängig davon, ob die Eltern wirklich zu Hause bleiben oder auf private Betreuungsmöglichkeiten zurückgreifen. "Eltern sollen sich entsprechend ihrer Wertehaltung entscheiden können", erläuterte Emilia Müller.

Nun gibt es zwar eine Bundeszuständigkeit für Maßnahmen der "öffentlichen Fürsorge", und die Mitglieder des Ersten Senats schienen in diesem Punkt keine Bedenken zu haben. Auch wenn das Betreuungsgeld pauschal an Arme wie Reiche gezahlt wird, ist es - so waren die Richterfragen zu verstehen - doch in allgemeiner Form als Unterstützung und Förderung der Familie zu verstehen. Das geht als "öffentliche Fürsorge" durch.

Zuständig ist der Bund bei der sogenannten "konkurrierenden Gesetzgebung" allerdings nur, wenn er noch eine zweite Hürde überspringt: Wenn das Gesetz zur "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" erforderlich ist. So steht es in Artikel 72, Absatz 2 des Grundgesetzes, eine Vorschrift, die 1994 zur Stärkung des Föderalismus geändert wurde, um die Länder vor einer weiteren Auszehrung ihrer Gesetzgebungszuständigkeiten zu bewahren. Im Jahr 2002 hatte das Bundesverfassungsgericht - übrigens auf Klage Bayerns - entschieden, dass dies so eine Art Notfall-Artikel ist: Nur bei erheblichen Nachteilen für das gesamtstaatliche Interesse darf der Bund zugreifen - sonst sind die Länder am Zug.

Die "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse"? Also der Versuch eines Ausgleichs regionaler Unterschiede bei der Kita-Betreuung? "So ist das Betreuungsgeld doch gar nicht konstruiert", warf Richter Reinhard Gaier ein. Gezahlt werde es auch dort, wo ein Überangebot an Betreuungsplätzen bestehe. Das Betreuungsgeld sei ja nicht einmal darauf angelegt, Unterschiede bei der Betreuung auszugleichen, sekundierte Andreas Paulus.

Michael Sachs, der juristische Vertreter der Bundesregierung, versuchte noch, den Richtern das Gesetz als Teil eines "Gesamtkonzepts" aus Kita-Förderung plus Betreuungsgeld schmackhaft zu machen. Gesamtkonzept? Damit könnte der Bund letztlich jede Domäne der Länder für sich reklamieren, etwa das Schulrecht, sagte Richter Johannes Masing. Und Gabriele Britz, zuständige Berichterstatterin im Senat, machte noch auf eine besondere Pointe aufmerksam. Ausgerechnet Bayern, das Land des fleischgewordenen Föderalismus, redete einer Bundeszuständigkeit das Wort, was den Ländern auf lange Sicht zahlreiche Kompetenzen entzöge. "Ist das auf Dauer der richtige Ansatz?"

Kritik an sich verfestigenden Rollenbildern

Das Betreuungsgeld, diesen Eindruck musste man gewinnen, war damit juristisch erledigt, noch bevor die Richter überhaupt zu den inhaltlichen Fragen vorgedrungen waren, die die politische Diskussion bestimmt hatten. Zum Beispiel die Frage, ob die staatliche Belohnung für den Kita-Verzicht zu einer sozialpolitisch nicht gewollten Fehlsteuerung führt. Bayern hatte hier beschwichtigt, 150 Euro sei doch ein eher geringer Betrag, ein kleiner Bonus für die heimische Betreuung. Richter Gaier lenkte das Augenmerk aber auf die sozial schwachen Familien, in deren Budget 150 Euro eine nennenswerte Größe sind. Familien, die wegen des Geldes auf einen Kitaplatz verzichten - obwohl ihre Kinder vielleicht gerade besonders davon profitieren würden. Bei Migrantenkindern habe sich nach dreijährigem Kita-Besuch der Sprachförderungsbedarf von 48 auf 13 Prozent verringert, wusste der Hamburger Familiensenator Detlef Scheele zu berichten.

Bleibt schließlich die Frauenfrage. Betreuungsgeld können zwar Frauen wie Männer beantragen, doch nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind fast 95 Prozent der gut 385 000 Bezieher von Betreuungsgeld weiblich. Richterin Susanne Baer wies darauf hin, dass ein Gesetz auch dann den Grundsatz der Gleichbehandlung verletzen kann, wenn es faktisch zu einer Verfestigung einer überkommenen Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern führt. "Kümmert es den Gesetzgeber, dass hier eine Schere auseinandergeht, die eigentlich geschlossen werden sollte?"

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SZ vom 15.04.2015/mane
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