Bundesverfassungsgericht:Karlsruhe verhandelt über Kuriosität

Das Verfassungsgericht prüft die Bundestagswahl 2005, weil die Bürger bei der nachgeholten Abstimmung in Dresden taktisch abstimmen konnten.

Helmut Kerscher

Das Bundesverfassungsgericht wird vom Gesetzgeber möglicherweise eine Korrektur des Bundeswahlgesetzes verlangen. Das zeigten kritische Fragen des Zweiten Senats bei einer Verhandlung über ein Paradoxon des deutschen Wahlrechts, wonach sich Zweitstimmen für eine Partei zu ihren Lasten auswirken können. Umgekehrt können unter bestimmten Umständen weniger Zweitstimmen einer Partei einen zusätzlichen Sitz im Bundestag einbringen. Davon können die großen Parteien beim mittlerweile regelmäßigen Erringen von Überhangmandaten profitieren.

Bundesverfassungsgericht: Dresdner Gewinner: Andreas Lämmel erhielt bei der Nachwahl im Oktober 2005 37 Prozent der Erststimmen. Weil viele CDU-Anhänger wussten, dass sie mit einer Zweitstimme für die Union ihrer Partei schaden würden, bekam die CDU nur 24 Prozent der Zweitstimmen - und verlor kein Mandat.

Dresdner Gewinner: Andreas Lämmel erhielt bei der Nachwahl im Oktober 2005 37 Prozent der Erststimmen. Weil viele CDU-Anhänger wussten, dass sie mit einer Zweitstimme für die Union ihrer Partei schaden würden, bekam die CDU nur 24 Prozent der Zweitstimmen - und verlor kein Mandat.

(Foto: Foto: Seyboldpress)

Gegen diesen Effekt des "negativen Stimmgewichts" hatten zwei Bürger Wahlprüfungsbeschwerden erhoben. Ihr Prozessvertreter Hans Meyer von der Humboldt-Universität Berlin sprach von einem "Systembruch des Wahlgesetzes" und vom "größten denkbaren Unfall" eines Wahlsystems. Demgegenüber verteidigten die Bundestagsabgeordneten Thomas Strobl und Carl-Christian Dressel das Wahlrecht als tragfähige Grundlage.

Suche nach Alternativen

Gerichtsvizepräsident Winfried Hassemer fragte nach möglichen Alternativen. Diese lieferten ihm sowohl Meyer als auch der Mathematiker und Wahlrechtsexperte Friedrich Pukelsheim. Beide plädierten für eine schonende Korrektur der geltenden "personalisierten Verhältniswahl". Sie laufen darauf hinaus, dass der Bundestag - anders als derzeit - nicht durch jedes Überhangmandat mehr als die vorgesehenen 598 Sitze bekommt.

Es sei frappant, dass eine Partei vom Vorenthalten einer Zweitstimme profitieren könne, sagte Pukelsheim. Das sei so, als ginge es einer Geliebten durch Vorenthaltung der Zuneigung besser, sagte er.

Der senatsinterne Berichterstatter Rudolf Mellinghoff erläuterte, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts nicht vorhersehbar sei. Er werde vom Auftreten von Überhangmandaten sowie vom Zweitstimmenergebnis anderer Landeslisten ein und derselben Partei beeinflusst.

Das Phänomen des negativen Stimmgewichts wurde einer breiteren Öffentlichkeit bei der Bundestagswahl 2005 bewusst. Damals kam es im Wahlkreis Dresden wegen des plötzlichen Todes der NPD-Kandidatin zu einer Nachwahl. Diese wurde wegen des knappen Ergebnisses zwischen der Union und SPD am eigentlichen Wahltag stark beachtet.

Rein rechnerisch hätte die SPD bei der Dresdner Nachwahl sogar den Vorsprung der Union von drei Bundestagsmandaten egalisieren können. Realistischer war hingegen eine andere Rechnung: Die CDU konnte ein Mandat verlieren, wenn sie bei der Nachwahl mehr als 41.225 Zweitstimmen bekam.

Richtig kalkuliert

Diese Kuriosität, an der sich in Dresden schließlich zahlreiche CDU-Wähler mit Erfolg orientierten, beruhte auf der Mischung von Persönlichkeitswahl- und Verhältniswahlrecht. Einerseits bleibt nach den Grundsätzen der Persönlichkeitswahl ein direkt mit der Erststimme errungener Sitz im Bundestag unangetastet. Andererseits ist für die Gesamtzahl der Sitze einer Partei der prozentuale Anteil an den Zweitstimmen eines Bundeslandes maßgebend. Liegt deren Zahl unter jener der Direktmandate einer Partei, kommt es zu Überhangmandaten. Davon hatte die CDU in Sachsen am regulären Wahltag bereits drei errungen.

Ein weiteres Direktmandat bei der Nachwahl änderte zwar nichts an der Zahl der Bundestagssitze der sächsischen CDU. Allerdings hätte sie rechnerisch ein Listenmandat eingebüßt. Die niedrigere Zahl der Zweitstimmen wirkte sich aber bei der "Unterverteilung" der Sitze auf die Landeslisten der CDU zugunsten des Saarlandes positiv aus, wo die Union ein Zusatzmandat bekam.

Die gestiegene Bedeutung des "negativen Stimmgewichts" hängt mit der Zunahme von Überhangmandaten seit der Wiedervereinigung zusammen. So gab es im 2005 gewählten Bundestag 16 Überhangmandate, von denen neun auf die SPD und sieben auf die CDU entfielen. In einigen Fällen entstanden paradoxe Ergebnisse, welche die Beschwerdeführer auf der Internet-Seite www.wahlrecht.de auflisten:

Sachsen: Hätte die CDU dort bei der Bundestagswahl 5000 Zweitstimmen mehr erhalten, hätte die Partei einen Sitz weniger im Bundestag.

Thüringen: Wenn die SPD dort 40.000 Zweitstimmen weniger erhalten hätte, gäbe es im Bundestag einen SPD-Abgeordneten mehr.

Saarland: Hätten die saarländischen Wähler der SPD 40.000 Zweitstimmen vorenthalten, gäbe es im Bundestag einen SPD-Abgeordneten mehr.

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