Süddeutsche Zeitung

Bundesverfassungsgericht:Im Rathaus lebt die Demokratie

Es war ein Sieg in der Niederlage: Karlsruhe stärkt die Rechte der Gemeinden, auch wenn es im konkreten Fall den Landkreisen die Kita-Planung zuweist.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

So ganz einfach war es für die acht klagenden Gemeinden von Arendsee bis Zerbst nicht zu verstehen, warum sie in Karlsruhe zwar ihren Prozess verloren hatten, aber die Kommunen im Allgemeinen grandios gewonnen haben sollten. Wurde ihnen da eine Niederlage als Sieg verkauft? Sie waren doch mit einem ganz konkreten Anliegen vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, nämlich, dass die Kita-Planung in ihren Händen bleibe und eben nicht, wie in Sachsen-Anhalt geschehen, den Landkreisen und kreisfreien Städten zugeschlagen werden dürfe. "Das entscheidet über Leben und Sterben der Gemeinden", hatte in der Anhörung im April ein Bürgermeister den Richtern zugerufen. Und nun sagt ihnen das Verfassungsgericht, ja, ihr seid wirklich wichtig, ihr seid die "Substanz der praktizierten Demokratie". Aber die Kita-Planung machen trotzdem die Kreise.

Karlsruhe räumt den Kommunen ein direktes Klagerecht ein. Das ist neu an dem Urteil

Tatsächlich ist es aber genau so. In der Niederlage steckt ein messbarer Erfolg für die Kommunen, vielleicht sogar einer, der langfristig das Leben in den Kommunen verbessern kann - und dazu beiträgt, ihr Sterben zu verhindern. Das Bundesverfassungsgericht hat das hohe Lied auf die kommunale Selbstverwaltung gesungen, also auf die Städte und Gemeinden, die nah dran sind an den Menschen und deshalb die örtlichen Angelegenheiten selbst regeln sollen; die kommunale Zuständigkeit hat Vorrang. Dass dies nun schon in der dritten Karlsruher Entscheidung innerhalb weniger Jahre eine wichtige Rolle spielt, zeugt vom dezentralen Staatsverständnis des Gerichts. Es geht dabei nicht nur um Kitaplätze, es geht um Straßenbahnen und kommunalen Wohnungsbau, um Jugendhäuser und Altenheime, um Parks und Schwimmhallen. Was das Leben in der Gemeinde prägt, ist dort zu regeln.

Sehr konkret wird das Gericht beim Thema Geld. Argumente wie Effizienz und Sparsamkeit rechtfertigen es nicht, den Kommunen Aufgaben zu entziehen. "Die Finanzkraft einzelner Gemeinden hat auf die Bestimmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft grundsätzlich keinen Einfluss", schreibt der Zweite Senat. Vielmehr müsse der Staat ihnen "gegebenenfalls die Mittel zur Verfügung stellen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen". Das ist die "Substanz der praktizierten Demokratie", von der Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung sprach.

Wirklich neu an dem Urteil ist, dass den Kommunen ein direktes Klagerecht eingeräumt wird. Grundsätzlich ist nämlich die erste Adresse für solche Kommunalklagen das jeweilige Landesverfassungsgericht. Dem Urteil zufolge kann sich eine Kommune aber fortan direkt ans Bundesverfassungsgericht wenden, wenn der Schutz der kommunalen Selbstverwaltung in der Landesverfassung zu eng, zu schwach, zu gering ist. Das Maß aller Dinge ist auch in diesem Fall das Grundgesetz, namentlich dessen Artikel 28. Das bedeutet: Die Länder können ihre Gemeinden nicht per Landesverfassung ins zweite Glied stellen, sonst bekommen sie es mit einem mächtigen Gegner zu tun. Die Kommunen haben nun einen starken Freund in Karlsruhe.

So gesehen, haben die acht klagenden Gemeinden aus Sachsen-Anhalt in Karlsruhe zumindest insofern gewonnen, als sie mit ihrem Anliegen überhaupt gehört wurden - und nicht mit einem schnöden "unzulässig" nach Hause geschickt wurden. Ansonsten illustriert gerade ihr Fall, dass es doch nicht ganz so einfach ist mit der kommunalen Selbstverwaltung. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar ein durchaus aufrichtiges Bekenntnis zur kleinen Einheit abgegeben, will aber auf der anderen Seite nicht der lokalen Kirchturmpolitik Vorschub leisten. Die modernen Lebensverhältnisse sind komplex, so dass es auch bei der Kitaplanung angezeigt sein kann, über die Grenze der Gemeinde hinaus zu denken - schon deshalb, weil Eltern oft auch Pendler sind und daher auch an Kitaplätzen außerhalb ihres Wohnorts interessiert sein können.

Jedenfalls hat Karlsruhe die Übernahme der Kitaplanung durch die Kreise deshalb erlaubt, weil es dafür gute Gründe gab. Dazu gehört die Erfüllung des rechtlichen Anspruchs auf eine Kitaplatz, vor allem aber die kontinuierliche Qualitätsentwicklung bei der Kinderbetreuung in Sachsen-Anhalt. Außerdem bleibe für die Gemeinden auf diesem Feld mehr als genug zu tun - Planung des Betreuungsbedarfs, Errichtung eigener Kitas, Zusammenarbeit mit freien Trägern. Soll heißen: Ob eine Kommune lebt oder stirbt, das hängt schon auch von ihr selbst ab.

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SZ vom 22.11.2017
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