Süddeutsche Zeitung

Bundesverfassungsgericht:Lizenz zum Schuldenmachen?

Die EU hat für ihren Corona-Wiederaufbaufonds Kredite aufgenommen. Am Dienstag wird in Karlsruhe entschieden, ob das zulässig war.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Beim Bundesverfassungsgericht steht an diesem Dienstag mal wieder eine der großen europäischen Fragen auf dem Tagesplan. Der Zweite Senat verkündet sein Urteil zum Wiederaufbaufonds "Next Generation EU", aufgelegt vor gut zwei Jahren und bestückt mit 750 Milliarden Euro zur Bewältigung der Pandemiefolgen. Eigentlich war dies die passende Hilfsaktion zur rechten Zeit, politisch wie ökonomisch, wäre da nicht ein juristisches Problem. Erstmals hat die EU in großem Stil Kredite aufgenommen; bisher hatte sie sich im Wesentlichen aus den Beiträgen der Mitgliedstaaten finanziert. Ist das - Fluch der guten Tat - womöglich der Eintritt in eine dauerhafte Schuldenunion?

Es geht also wieder einmal ums Geld, genauer gesagt, um die Frage, ob der potente Bundeshaushalt durch die Haftung für europäische Schulden in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. In Variationen wird dieses Stück seit zehn Jahren in Karlsruhe aufgeführt. Zuerst hatten Griechenlandhilfe und Euro-Rettungsschirm die Gralshüter des nationalen Haushalts auf den Plan gerufen. Dann folgte Mario Draghis großes Versprechen, den Euro zu retten ("whatever it takes"), schließlich der Großeinkauf von Staatsanleihen (PSPP) durch die Europäische Zentralbank; auch da schwang stets die Sorge vor einer Gemeinschaftshaftung mit.

Schulden sind ein süßes Gift, nicht nur in Notlagen

Zuverlässig landen die Fälle in Karlsruhe, es klagen die üblichen Verdächtigen; die beiden Kläger, der Unternehmer Heinrich Weiss und der Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke, waren bereits bei den PSPP-Klagen an Bord.

Dass das jetzige Verfahren erneut zum Crash führt, darf nach dem Gang der mündlichen Verhandlung im Juli als unwahrscheinlich gelten. Beim PSPP-Urteil im Jahr 2020 war das Bundesverfassungsgericht auf Konfrontationskurs gegangen und hatte EZB sowie Europäischem Gerichtshof vorgeworfen, beide hätten im Kontext des Anleihekaufs ihre Kompetenzen überschritten.

Dieses Mal sieht es anders aus: Ein beinhartes Schuldenverbot, das eine Karlsruher Intervention provozieren könnte, konnten die Richterinnen und Richter in den Europäischen Verträgen nicht ausmachen. Im Gegenteil: Nach Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU ist in Notsituationen finanzielle Hilfe durch die EU zulässig. Ohne die Befugnis, Kredite aufzunehmen, liefe die Vorschrift leer, merkten mehrere Mitglieder des Zweiten Senats in der Anhörung an - weil es in solchen Fällen normalerweise schnell gehen müsse.

Weil Schulden aber ein süßes Gift sind, könnte das Gericht bemüht sein, den Griff zu europäischen Krediten auf Notlagen von der Größenordnung einer Corona-Pandemie zu beschränken, einfach damit das Schuldenmachen nicht zur Gewohnheit wird. Dies freilich hatte ein Vertreter der EU-Kommission in der Anhörung hoch und heilig versichert. Ausschließlich in wirklichen Notlagen sei ein solcher "Eigenmittelbeschluss" zulässig, und nur mit einer "betonstarken Zahlungsgarantie", sagte Clemens Ladenburger vom Juristischen Dienst der Kommission.

All diese Europaklagen folgen demselben ausgetrampelten Pfad

Er fügte hinzu: Und nur mit breiter demokratischer Absicherung. Was zu der interessanten Frage führt, warum Karlsruhe hier überhaupt im Spiel ist - wenn doch demokratisch eigentlich alles in Ordnung ist?

All diese Europaklagen folgen demselben ausgetrampelten Pfad. Sie machen eine Verletzung ihres Rechts auf Demokratie geltend, das entleert zu werden drohe, wenn "Brüssel" aus dem durch die Mitgliedstaaten gesetzten Rahmen ausbreche. Der Wahlzettel, den die deutsche Bürgerin eingeworfen hat, entfaltet seine Wirkung in Europa auf dem Weg über den Bundestag, heißt das. Folge: Die EU darf sich nicht eine neue Identität als Haftungs- und Schuldenunion geben, die von den Wählern demokratisch nicht legitimiert ist.

So plausibel der Gedanke erscheinen mag, in der Praxis führt er dazu, dass jeder gegen EU-Maßnahmen klagen kann - eine sogenannte Popularklage, wie sie das Gericht in allen anderen Fällen strikt ausschließt. Faktisch stellt dieser Mechanismus eine Einladung für wechselnde Klägergruppen aus Europagegnern, Nationalkonservativen und inzwischen auch AfD-Sympathisanten dar, die seit drei Jahrzehnten in Karlsruhe klagen, mit gelegentlicher Unterstützung von links.

Dieses Mal mutet die Berufung der Kläger auf ihr Recht auf Demokratie besonders grotesk an. Heiko Sauer, Vertreter der Bundesregierung, wies in der Verhandlung darauf hin, dass der "Next Generation EU"-Fonds mit den höchsten demokratischen Weihen versehen sei. Alle Staaten hatten ihn beschlossen, alle Parlamente ratifiziert, auch das Europaparlament war beteiligt. Ohne allseitige Zustimmung hätte er keine rechtliche Wirkung entfaltet. Sauers Schlussfolgerung: Die Klagen seien unzulässig. Der Wiederaufbaufonds sei überhaupt kein Fall für Karlsruhe.

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