Europäische Union:Wer hat das letzte Wort in Europa?

Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs

"Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen": Das befand Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

(Foto: Stephanie Lecocq/dpa)

Mit dem Strafverfahren gegen Deutschland, das die EU-Kommission eröffnet hat, eskaliert der Streit zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof.

Von Thomas Kirchner

Die Europäische Union ist ein singuläres Gebilde. Nicht Bundesstaat, nicht Staatenbund, irgendwo dazwischen. Entsprechend umkämpft ist die Frage, wer wirklich das Sagen hat, das letzte Wort, wenn es um das Recht in Europa geht: die Staaten, ohne welche die Union nicht existieren würde, oder die Union selbst in Gestalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)? Das selbstbewusste Bundesverfassungsgericht trieb die Causa im Mai 2020 auf die Spitze: Mit seiner Entscheidung zum Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) setzte es sich über einen Spruch des EuGH hinweg und stellte die Autorität der Luxemburger Richter erstmals offen in Frage. Es war eine Kampfansage.

Mehr als ein Jahr später hat die EU-Kommission den Fehdehandschuh aufgenommen. In dieser Woche leitete sie ein Verfahren gegen Deutschland wegen Verletzung von EU-Recht ein. Urteile des obersten EU-Gerichts seien für alle Staaten verbindlich.

Warum macht Brüssel das? Es hätte Gründe gegeben, auf das Verfahren zu verzichten. Zumindest aus deutscher Sicht ist die Sache erledigt. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil die Milliarden-Ausgaben der EZB beanstandet. Seiner Ansicht nach hat die Notenbank ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt. Der Kontrolleur EuGH habe dies großzügig durchgewinkt, mit einer Begründung, die "objektiv willkürlich" und "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar" sei. Karlsruhe bestand auf einer vertieften Prüfung der Verhältnismäßigkeit, die Bundestag und Bundesregierung nachlieferten. Im April, als es einen Antrag auf Vollstreckung ablehnte, akzeptierte das Gericht das Vorgehen.

Gleichzeitig weiß man auch in Brüssel, dass im Krieg der Richter eigentlich niemand gewinnen kann; dass die ultimative Machtfrage besser nicht geklärt, sondern in der Schwebe gehalten werden sollte. Der europäische "Rechtsverbund", das wird in Karlsruhe wie in Luxemburg oft betont, sei auf Kooperation angewiesen.

Polnische Politiker berufen sich im Streit mit der EU auf das deutsche Urteil

Der Konflikt schwelt seit Langem. Schon 1974 hatte Karlsruhe erste Kriterien für einen Konflikt zwischen europäischem und deutschem Recht präsentiert. Man behält sich ein Eingreifen vor, wenn die "Identität" der Bundesrepublik - etwa das Demokratieprinzip - verletzt werden könnte. Noch weiter reicht die von Karlsruhe entwickelte "Ultra-vires"-Kontrolle. Sie setzt ein, wenn EU-Organe ihre Kompetenzen überschreiten. Eben dies habe der EuGH getan, heißt es im EZB-Urteil. Karlsruhes schärfstes Schwert, erstmals gezückt.

Für die Kommission stellt sich hier die Grundsatzfrage. Ein nationales Verfassungsgericht dürfe sich nicht die Rolle des obersten Schiedsrichters anmaßen. "Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen. Nirgendwo sonst", hatte Kommissionschefin Ursula von der Leyen im Mai 2020 betont.

Ganz so einfach ist es nicht. Den Vorrang des Unionsrechts, selbst gegenüber nationalem Verfassungsrecht, hat sich der EuGH seit den 1960er-Jahren in Urteilen selbst erarbeitet. Im Primärrecht steht er nirgends; in einer Erklärung zum Vertrag von Lissabon weisen die Mitgliedstaaten lediglich auf diesen Vorrang hin. Auch Karlsruhe bekennt sich dazu - solange die Kompetenzen nicht überschritten werden.

Politisch bietet sich hier eine offene Flanke. Was, wenn alle so argumentieren? Die Kommission sieht einen "gefährlichen Präzedenzfall". Polnische Politiker haben sich im Streit mit der EU über die Justizreform wiederholt auf das Karlsruher Urteil berufen. Soeben hat Brüssel die polnische Regierung aufgefordert, eine Vorlage vor ihrem Verfassungsgericht zurückzuziehen, in der sie den Vorrang des EU-Rechts infrage stellt. Am Donnerstag antwortete Premier Mateusz Morawiecki: "Die polnische Verfassung ist dem EU-Recht übergeordnet."

Die meisten Experten und Politiker begrüßen daher das Verfahren gegen Deutschland. Die Kommission, die in dieser Hinsicht bisher eher zögerlich gewesen sei, signalisiere Staaten wie Ungarn und Polen, dass sie das Nichtbefolgen eines EuGH-Urteils "nicht einfach akzeptiert", sagt Thu Nguyen vom Berliner Delors-Institut. Brüssel mache auch klar, dass alle Staaten gleichbehandelt würden. Der Grünen-EU-Abgeordnete Sven Giegold sprach vom "geeigneten Weg, um den rechtlichen Konflikt zu lösen". Wenn nationale Höchstgerichte mit dem EuGH konkurrierten, "wird die europäische Rechtsordnung zum Flickenteppich".

Andere sind skeptischer. Der Göttinger Jurist Alexander Thiele sieht die eigentliche Schuld zwar in Karlsruhe, trotzdem sei der Schritt der Kommission "eher unklug". Der Streit mit Polen und Ungarn könne nur politisch entschieden werden, nicht durch Gerichte. Giegolds CSU-Kollege Markus Ferber rügt "Prinzipienreiterei". Er frage sich, "wem ein solches Vertragsverletzungsverfahren helfen soll". Tatsächlich ist nicht klar, was die Kommission genau erreichen will. Das Mahnschreiben, erster Schritt im Verfahren, hat sie an die Bundesregierung geschickt. Eigentlicher Adressat ist aber Karlsruhe. Dort wünscht sich die Kommission eine Verhaltensänderung. Die im EZB-Urteil geäußerte Kritik hätte das Gericht in Frageform dem EuGH vorlegen sollen. Es könne nicht sein, heißt es, dass sich Karlsruhe vorbehalte, die Verhältnismäßigkeit von EU-Rechtsakten jeweils mit einem eigenen Maßstab zu überprüfen.

Wie eine schlaue, gesichtswahrende Lösung aussehen könnte, ist offen. In Berlin stößt die Brüsseler Entscheidung, wie der Spiegel am Freitag berichtete, "auf Verärgerung und Ratlosigkeit". Justiz- und Finanzministerium schöben einander die Verantwortung dafür zu, auf den Beschluss zu reagieren und seien verstimmt darüber, dass die Kommission "ausgerechnet an Deutschland ein Exempel statuieren wolle".

Das Verfahren sei "mit seinen verschiedenen Stufen auch ein Diskursangebot", beruhigt der Bielefelder Jurist Franz Mayer, es müsse nicht sein, dass der Fall vor den EuGH gelangt, der am Ende sogar eine Strafe aussprechen könnte. "Da sind noch viele Zwischentöne möglich." Bisher habe die EU die Spannung zwischen nationalem und EU-Recht immer pragmatisch aufgelöst, sagt der Flensburger Europa-Experte Uwe Puetter. Spätestens die Euro-Krise habe die Grenzen dieses Ansatzes gezeigt: Die Politik wollte der EZB bewusst einen weiten Handlungsraum geben. "Sonst hätte die EU auch scheitern können."

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