Bundesverfassungsgericht: Das Urteil:Die zehn Gebote der Vorratsdatenspeicherung

Das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts befriedigt kurzfristig die Gegner der Vorratsdatenspeicherung und langfristig ihre Befürworter. Was das Karlsruher Gericht will - und was der Gesetzgeber jetzt tun muss. Zehn Punkte.

Heribert Prantl

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts befriedigt kurzfristig die Gegner der Vorratsdatenspeicherung - und langfristig ihre Befürworter.

Es erklärt nur jene geltenden deutschen Gesetze für nichtig, welche die vorsorgliche Erfassung und Speicherung aller Telekommunikationsdaten ohne konkreten Anlass anordnen und regeln. Zugleich aber ist das höchste deutsche Gericht, abweichend von seiner bisherigen Rechtsprechung, grundsätzlich mit einer Vorratsdatenspeicherung einverstanden, wenn beim Zugriff bestimmte Regeln eingehalten werden. Die zehn wichtigsten Punkte des Urteils.

1. Die geltenden Regelungen des Telekommunikationsgesetzes zur Vorratsdatenspeicherung sind verfassungswidrig und nichtig: Sie sind unverhältnismäßig; sie genügen den Sicherheitsstandards nichts; die Gefahr des illegalen Zugriffs auf die Daten ist zu groß; und die bisherigen Voraussetzungen für den Zugriff auf die gespeicherten Daten sind zu allgemein, zu weit und zu lasch.

2. Eine Vorratsdatenspeicherung - also die vorsorgliche Erfassung und Speicherung aller Telekommunikationsdaten ohne konkreten Anlass - darf in der Bundesrepublik bis zum Erlass eines neuen Gesetzes nicht stattfinden.

3. Die auf Grund des bisherigen Gesetzes schon gespeicherten Daten müssen sofort gelöscht werden. Das Bundesverfassungsgericht hatte nämlich in einstweiligen Anordnungen die bloße Speicherung der Daten, aber nicht ihre Verwendung, vorläufig erlaubt.

4. Es darf auch in Zukunft in Deutschland keinen "offenen Datenpool" geben, aus dem sich die Sicherheitsbehörden und die Geheimdienste nach Belieben oder politischem Ermessen bedienen können. Das Verfassungsgericht versucht daher, die Ampeln für alle weiteren Eingriffe in die Privatheit der Bürger auf "Rot" zu stellen - auch auf EU-Ebene: Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung zwinge den Gesetzgeber bei weiteren Datensammlungen zur "Zurückhaltung".

Der warnende Satz der Richter ist sperrig, aber deutlich: "Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss. Durch die vorsorgliche Speicherung der TK-Verkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer."

Bis hierher geht der Sieg der mehr als 35.000 Beschwerdeführer. Von diesem Punkt an beginnt ihre Niederlage. Das Bundesverfassungsgericht weicht nämlich in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom bisherigen Credo seiner Rechtsprechung ab: Bisher, seit dem Urteil zur Volkszählung im Jahr 1983, galt die anlasslose Datenspeicherung als grundgesetzwidrig.

Im Video: Das Bundesverfassungsgericht hat die umstrittene Vorratsdatenspeicherung gekippt.

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Punkt 6 bis 10: Das Gericht weicht vom bisherigen Credo ab

5. Der deutsche Gesetzgeber kann aber nun auf der Basis der EU-Richtlinie und der Vorgaben im Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein neues, verfassungskonformes Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung erlassen. Es dürfen also in Zukunft alle Telekommunikationsdaten auf Vorrat sechs Monate (diese sechs Monate liegen allerdings, so die Richter, "an der Obergrenze dessen, was unter Verhältnismäßigkeitserwägungen rechtfertigungsfähig ist") gespeichert werden, wenn nur der Zugriff des Staates auf diese Daten streng genug geregelt wird.

6. Datenspeicherung ohne konkreten Anlass zu noch unbestimmten Zwecken galt bisher von vornherein als grundgesetzwidrig. Die Bürger im Staat des Grundgesetzes, so wurde das seitdem in vielen Urteilen bestätigt, sollen nicht befürchten müssen, dass "abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert" werden. Jetzt sagt das Bundesverfassungsgericht unter dem Druck der EU-Richtlinie, vorsorgliche anlasslose Datenspeicherungen seien nicht in Gänze und "nicht schlechthin" verfassungswidrig. Sie seien zulässig, allerdings "nur ausnahmsweise". Es handele sich um einen "besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt". Deshalb müsse dieser Eingriff auch an "besonders schwere Anforderungen" geknüpft werden.

7. Die Speicherung aller Telekommunikationsdaten aller Bürger wird grundsätzlich für möglich gehalten, aber an die Aufbewahrung der Daten werden hohe Anforderungen gestellt. Die Speicherung bedürfe, um verhältnismäßig zu sein, eines "besonders hohen Standards der Datensicherheit". Gefordert wird unter anderem: Eine anspruchsvolle Verschlüsselung; ein "gesichertes Zugriffsregime unter Nutzung etwa des Vier-Augen-Prinzips" sowie eine "revisionssichere Protokollierung".

8. Der staatliche Zugriff auf die gespeicherten Daten muss völlig neu geregelt werden: Bisher war der Zugriff schon bei Straftaten "von erheblicher Bedeutung" möglich. Künftig soll er nur zur Verfolgung konkret aufgeführter "schwerer Straftaten" möglich sein, wenn diese "auch im Einzelfall schwer wiegt". Zur Gefahrenabwehr soll der Zugriff "nur zur Abwehr von Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit eines Landes oder zur Abwehr einer gemeinen Gefahr zugelassen werden". Die Verfassungsrichter nehmen Bezug auf ihre schon für die Online-Durchsuchung von Computern entwickelten Kriterien.

9. Bei der Neuregelung des staatlichen Zugriffs auf die gespeicherten Telekommunikationsdaten muss künftig beachtet werden, dass die Verfassungsrichter "ein grundsätzliches Übermittlungsverbot" für die Daten von Personen formulieren, die auf besondere Vertraulichkeit angewiesen sind: Die Telefon- und Internetdaten von Personen, Behörden und Organisationen, die telefonische Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten oder bei denen die Anrufer grundsätzlich anonym bleiben, sollen tabu bleiben. Es ist hier die Rede von Einrichtungen, deren Mitarbeiter Verschwiegenheitspflichten unterliegen.

10. Journalisten werden aber hier nicht ausdrücklich genannt. Es ist daher zu befürchten, dass der Gesetzgeber das künftige Zugriffsverbot nicht auf die Telekommunikationsdaten von Journalisten erstreckt.

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