Reaktionen auf Bundesverfassungsgericht:Regierung und Fraktionen wollen schnell klare Regeln bei Triage schaffen

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(Foto: dpa)

Karlsruhe betont den Schutz von Menschen mit Behinderung auch bei einer möglichen Triage. Die Bundesregierung will zügig einen Entwurf vorlegen.

Die Bundesregierung will "zügig" einen Entwurf zum Schutz von Menschen mit Behinderung im Falle einer sogenannten Triage-Situation vorlegen. Das kündigte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) am Dienstag über Twitter an. Das erste Ziel müsse sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage komme, erklärte er. "Wenn aber doch, dann bedarf es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten." Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) begrüßte das Urteil ausdrücklich. "Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst recht im Falle einer Triage." Jetzt aber heiße es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern.

Das Bundesverfassungsgerichts hatte zuvor den Gesetzgeber in einem schriftlichen Beschluss (AZ: 1 BvR 1541/20) aufgefordert, "unverzüglich" geeignete Vorkehrungen zu treffen, wie bei einer Knappheit an Betten und Personal die Patientenauswahl für eine intensivmedizinische Behandlung vorzunehmen ist. Bei der Umsetzung habe der Gesetzgeber Spielräume. Bisher aber habe es der Staat in der Corona-Pandemie versäumt, diesem Schutzauftrag zu folgen und jede Benachteiligung wegen einer Behinderung hierbei wirksam zu verhindern.

Zustimmung aus den Fraktionen

SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese sprach von einem "klaren Auftrag an uns als Gesetzgeber". Er verwies darauf, dass die Richter dem Gesetzgeber einen Spielraum zubilligten. "Diesem klar umrissenen Handlungsauftrag sollten wir jetzt zügig, aber mit der gebotenen Sorgfalt nachkommen." SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt erklärte, das Thema sei bereits im vergangenen Jahr diskutiert worden, und der Beschluss könne nun schnell umgesetzt werden.

FDP-Vizechef und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki begrüßte den Beschluss ebenfalls. "Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist rechtlich nachvollziehbar, da nach der Wertentscheidung unseres Grundgesetzes Fragen von Leben und Tod durch den Gesetzgeber entschieden werden müssen und nicht durch private Übereinkunft", sagte er der Rheinischen Post. "Dass die Union, die den Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Legislaturperiode stellte, hier über anderthalb Jahre nicht tätig geworden ist, passt leider ins Bild einer lediglich auf Kurzfristigkeit ausgelegten Corona-Politik unter Kanzlerin Merkel." Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann schrieb auf Twitter: "Es ist an uns als Gesetzgeber, Vorkehrungen zu treffen. Jetzt wird im Bundestag eine sorgfältige Prüfung und Erörterung nötig sein, wie dies gestaltet werden kann."

Ärzte, Sozialverbände und Kläger begrüßen Klarstellung

Auch der Chef der Weltärztekammer, Frank Montgomery, äußerte sich zustimmend. Der Gesetzgeber solle "Leitplanken" definieren, an denen sich Ärzte orientieren könnten, sagte er der Funke Mediengruppe. Ähnliche Regelungen gebe es im Transplantationsgesetz. Lob kam ebenfalls von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Der kommissarische Leiter Bernhard Franke sprach von einem "sehr wichtigen Signal" für Menschen mit Behinderung.

Entsprechend begrüßten auch weitere Patientenschützer und der Sozialverband VdK den Beschluss des höchsten deutschen Gerichts. "Jetzt kann sich der Bundestag nicht mehr drücken", sagte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Bislang habe er Entscheidungen zur Priorisierung im Gesundheitssystem immer wegdelegiert - etwa an Fachverbände. Die nun zu treffenden Entscheidungen seien für die Abgeordneten sicher keine einfachen. Brysch sagte weiter, die nun nötige Diskussion brauche etwas Zeit. "Das ist ein äußerst komplexes Thema." Er erwarte aber binnen eines Jahres Ergebnisse. "Wir wissen ja nicht, wie die Lage im nächsten Herbst ist." Wichtig sei nun, dass die Fraktionen im Bundestag einen Fahrplan vorlegen. Auch die Bundesregierung sei gefordert, Vorschläge zu unterbreiten.

Eine der Klägerinnen, Nancy Poser, zeigte sich "erleichtert". "Freude kann man nicht sagen, denn es geht um Triage. Das ist ein Thema, da kann es keine Freude geben - egal nach welchen Kriterien entschieden wird, es ist immer tragisch", sagte die 42-Jährige aus Trier. VdK-Präsidentin Verena Bentele erklärte: "Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage allein gelassen werden, dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage."

"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden"

Eingereicht hatten die Verfassungsbeschwerde neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen. Sie hatten befürchtet, ohne solche Vorgaben von Ärzten aufgegeben zu werden. Das Bundesverfassungsgericht teilte am Dienstag dann in Karlsruhe mit, aus dem Schutzauftrag wegen des Risikos für das höchstrangige Rechtsgut Leben folge eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber.

Das Wort Triage stammt vom französischen Verb "trier", das "sortieren" oder "aussuchen" bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht - zum Beispiel, weil so viele schwerstkranke Corona-Patienten in die Krankenhäuser kommen, dass es nicht genug Intensivbetten gibt.

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hatte dafür mit anderen Fachgesellschaften "Klinisch-ethische Empfehlungen" erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger haben die dort genannten Kriterien allerdings mit Sorge gesehen, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben. Doch im Grundgesetz steht: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."

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