Streit über Antisemitismus:"Deutsch-jüdische Symbiose unter dem Hakenkreuz"

Weil der Politologe Löw die Deutschen in der NS-Zeit eher als Opfer sah, die gut mit Juden gelebt hätten, stampfte die Bundeszentrale für politische Bildung die Publikation mit seinem Text ein. "Verfassungswidrig", urteilt Karlsruhe.

Die Deutschen im "Dritten Reich", waren sie in der Mehrheit gar nicht gegen Juden eingestellt? Waren sie Opfer, nicht Täter? Muss die Geschichte umgeschrieben werden, sind all die Berichte über Verfolgung, Gaskammer-Tod, eingeworfene Fensterscheiben, Pöbeleien und Menschenjagd letztlich ergänzungsbedürftig?

1. April 1933: Aufruf der Nazis zum Judenboykott

Aufruf der Nazis zum Judenboykott im April 1933. Hat die Mehrheit der Deutschen während der NS-Zeit mit den Juden sympathisiert, wie Konrad Löw schreibt? Die Kritik der Bundeszentrale für politische Bildung an dieser und anderen Aussagen war verfassungswidrig, sagt das Bundesverfassungsgericht.

(Foto: dpa)

Man kann auch fragen: Wie weit sind wir eigentlich in Deutschland gekommen?

Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) jedenfalls durfte nicht einfach so im Nachhinein Abstand zu einem problematischen Text nehmen, den sie selbst veröffentlich hatte. Das war verfassungswidrig, wie jetzt an höchster Stelle geurteilt wurde. Die Meinungsfreiheit zählt viel in diesem Land, sie umfasst auch Provokantes - und bei diesen Maßstäben hätte Thilo Sarrazin wohl unbedingt Vorstand der Bundesbank bleiben müssen.

Es geht um einem wissenschaftlichen Aufsatz zum Thema Antisemitismus aus dem Jahr 2004. Den hatte der emeritierte Bayreuther Politikprofessor Konrad Löw verfasst - und der Umgang mit ihm war nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts nicht angemessen. Das geht aus einem Kammerbeschluss des Ersten Senats hervor.

Der Politologe hatte vor sechs Jahren im Deutschland Archiv heftig umstrittene Thesen zum deutschen Antisemitismus veröffentlicht. So vertrat er in seinem Aufsatz Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte die Auffassung, die Deutschen wären während der NS-Zeit in ihrer Mehrheit "weit mehr Opfer als Täter" gewesen, wenn auch "nicht in so schrecklichem Ausmaß wie das Gros der Juden".

Mehrheitlich wären die Deutschen damals nicht antisemitisch eingestellt gewesen, sondern hätten mit den Juden sogar sympathisiert. Löw hatte sogar von einer "deutsch-jüdischen Symbiose unter dem Hakenkreuz" geschrieben, und als Beleg dafür die Tagebücher des Juden Victor Klemperer angeführt.

Auch betonte Löw, dass einige Juden "einen beachtlichen Beitrag [bei der Umsetzung von Hitlers Endlösungsplänen] als Judenräte, als Häscher, als Polizisten, in den Gaskammern" geleistet hätten - wenn auch "sicherlich ausnahmslos (aus) Angst um das eigene nackte Leben".

Nachdem ein Teil der Zeitschriften bereits ausgeliefert war, hatten Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung deren Präsidenten Thomas Krüger auf den Text aufmerksam gemacht. Dieser hatte entschieden, dass sich die Bundeszentrale bei den Abonnenten des Deutschland Archivs, "welche sich durch den Beitrag verunglimpft fühlen", entschuldigen sollte.

Darüber hinaus kündigte die Zentrale an, den Rest der Auflage einzustampfen. Verantwortlich für die Veröffentlichung des Artikels im Deutschland Archiv war ein Redakteur, der eigenen Angaben zufolge die Brisanz nicht erkannt hatte.

Der Wissenschaftler klagte daraufhin gegen die Bundeszentrale wegen Rufschädigung, blieb aber vor den Verwaltungsgerichten in Nordrhein-Westfalen ohne Erfolg. Mit der jetzt in Karlsruhe veröffentlichten Entscheidung hatte die Verfassungsbeschwerde des Professors Erfolg.

Die Verfassungshüter bezeichneten die Reaktion der Bundeszentrale als unzulässig. Die Behörde dürfe sich zwar von extremen oder extremistischen Meinungen distanzieren, die ihr ansonsten zugerechnet würden. Allerdings könne sie sich nicht wie Privatpersonen auf Grundrechte wie etwa die Meinungsfreiheit berufen. Auch könne sie ihre Geschichtsinterpretation nicht als einzig richtige hinstellen, heißt es zur Begründung. Als Anstalt des öffentlichen Rechts müsse die Bundeszentrale die Aufgabe wahrnehmen, die Bürger mit solchen Informationen zu versorgen, die diese zur Mitwirkung an der demokratischen Willensbildung benötigen.

Mit dem abschätzigen Brief sei sie zu weit gegangen, weil der Aufsatz als nicht mehr diskutierbar dargestellt werde. Der Wissenschaftler werde in dem Schreiben als ein Autor dargestellt, mit dem man sich nicht mehr argumentativ auseinandersetzen, sondern der nur noch "makuliert" werden könne. Das sei vor dem Hintergrund des sensiblen Themas Antisemitismus eine Stigmatisierung des Betroffenen.

Das Gericht rief die Behörde zu mehr "Ausgewogenheit und rechtsstaatlicher Distanz" im Meinungsstreit über den Antisemitismus der Deutschen während der NS-Zeit auf.

Das Verwaltungsgericht Köln muss nun erneut über die Klage des Autors gegen die Bundeszentrale für politische Bildung entscheiden.

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