Bundesverfassungsgericht:Angriff auf den Rechtsstaat

Verfassungsgericht zu Äußerungsrechten von Regierungsmitgliedern

Der Zweite Senat des Gerichts in Karlsruhe mit Peter Müller, dem Vorsitzenden Andreas Voßkuhle, Peter M. Huber und Sibylle Kessal-Wulf (von links).

(Foto: dpa)

Die AfD versucht, den Ruf des Bundesverfassungsgerichts zu untergraben. Eine Gesetzesinitiative der Partei gibt vor, Transparenz zu schaffen, will aber nur Misstrauen auslösen.

Gastbeitrag von Martin Eifert

Die AfD hat einen bemerkenswerten Gesetzgebungsvorschlag eingebracht: Das Bundesverfassungsgericht soll verpflichtet werden, jede Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde zu begründen. Bislang steht es im Ermessen des Gerichts, ob es die Nichtannahme begründet. Auf den ersten Blick scheint der Vorschlag die Rechte der Bürger und damit den Rechtsstaat zu stärken, deshalb erhält er gegenwärtig Beachtung und Zustimmung über die AfD hinaus. Auf den zweiten Blick aber offenbart sich der Vorschlag als gut getarnter Angriff auf den demokratischen Verfassungsstaat.

Der AfD geht es vor allem darum, dem Bundesverfassungsgericht Gründe abzufordern. Dies hat zweierlei Wirkungen. Das chronisch überlastete Gericht würde somit noch weiter belastet und in seiner Arbeitsfähigkeit geschwächt. Und symbolisch belegt es der flächendeckende Begründungszwang mit Misstrauen. Damit wird jenes institutionelle Vertrauen, das für die Wirkkraft des Gerichts unerlässlich ist, in Zweifel gezogen. Eine scheinbar rechtsstaatliche Forderung, die auf eine Schwächung des demokratischen Rechtsstaats hinausläuft: Das Vorgehen der AfD entspricht genau dem Muster populistisch-antiliberaler Strategien.

Das Bundesverfassunggericht hat hohes Ansehen, aber auch hohen Arbeitsaufwand

Die Individualverfassungsbeschwerde gehört zu den zentralen Elementen des verfassungsrechtlichen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Sie wurde erst 1969 im Grundgesetz verankert, war aber von Anfang an gesetzlich garantiert und sorgte dafür, dass die einfache Rechtsordnung mit den Verfassungswerten durchdrungen wurde. Zudem verankerte sie bei den Bürgern das Bewusstsein, eigene Rechte aus dem Grundgesetz durchsetzen zu können.

Bundesverfassungsgericht: Martin Eifert, 53, ist Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt- Universität in Berlin.

Martin Eifert, 53, ist Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt- Universität in Berlin.

(Foto: privat)

Auch deshalb konnte sich der Verfassungspatriotismus, also die Integration der Gesellschaft über die gemeinsamen Werte ihrer Verfassung, nicht nur als theoretisches Konzept, sondern auch als politischer Begriff und Lebenswirklichkeit etablieren. Dem Bundesverfassungsgericht hat das zwar hohes Ansehen als "Bürgergericht" gebracht, aber auch eine chronische Überlastung.

Nur drei Prozent der Verfassungbeschwerden haben Erfolg

Ursprünglich musste das Gericht bei Nichtannahme zwar keine Begründung liefern, sondern nur einen Hinweis auf den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt. Nachdem von 1972 an die Verfassungsbeschwerden von damals 1529 Eingängen auf 3904 im Jahr 1991 gestiegen waren, reagierte der Gesetzgeber: Die Hinweispflicht wurde aufgegeben mit dem erklärten Ziel, das Verfassungsgericht solle sich auf Entscheidungen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung konzentrieren können. Von den Verfassungsbeschwerden haben kontinuierlich weniger als drei Prozent Erfolg.

Neben der Masse wenig relevanter Fälle werden durch Verfassungsbeschwerden immer wieder zentrale und weitreichende verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen - von der Volkszählung bis hin zu den Gesetzen in der Finanzkrise. Hierfür und für andere Verfahren wie die Kontrolle von Gesetzen soll dem Gericht genügend Kapazität bleiben.

Bei Eingangszahlen zwischen 5600 und 6600 Verfahren in den Jahren zwischen 2008 bis 2017 hat die Belastung aber noch einmal um die Hälfte zugenommen. Es liegt auf der Hand, dass es keine Stärkung des Rechtsstaats wäre, unter diesen Umständen eine Begründungspflicht für die Nichtannahme einzuführen.

Die AfD will das Verfassungsgericht schwächen

Wenn Begründungen keine Leerformeln sein sollen, kommt ihnen eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zu. Sie müssten entsprechend detailliert abgestimmt werden. Der Vorschlag der AfD schwächte also die Arbeitsfähigkeit des Gerichts, verzögerte die Verfahren und minderte die Durchsetzung und damit letztlich die Bedeutung der Verfassung als grundlegender Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Das Ziel der AfD ist klar: eine Schwächung des Bundesverfassungsgerichts als Institution im Gewande technischer, scheinbar rechtsstaatsfreundlicher Regelungen. Der Versuch, unabhängige Verfassungsgerichte durch dysfunktionale Vorgaben zu schwächen, ist allzu vertraut. In Polen wurden die von Dezember 2015 an verabschiedeten gesetzlichen Anforderungen an die Besetzung des Gerichts sowie die grundsätzlich einzuhaltende Reihenfolge der Bearbeitung von Verfahren politisch als Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit ausgegeben. Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) benannte sie in ihrem Bericht zur Justizreform in Polen aber nüchtern als eine der Regelungen, die die Arbeit des Gerichts erheblich verzögern, behindern und ineffektiv machen.

Der Ansatz fügt sich in ein größeres Muster. Die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt haben jüngst in How Democracies Die ihre Forschungen über das Ende von Demokratien zusammengefasst und festgestellt, dass in jüngerer Zeit die Demokratien vor allem als Folge innerer Aushöhlung zusammengebrochen sind. Ursächlich waren legale, oftmals gar als Stärkung ausgegebene Maßnahmen, die Institutionen und Werte untergruben.

Das Bundesverfassungsgericht hat kein Misstrauensproblem

Zwei Institutionen stehen im Fokus des antiliberalen Populismus: die Presse und die Verfassungsgerichte. Beide stehen in maximalem Gegensatz zu den homogen-kollektiven Identitäten, die von diesen Strömungen beschworen werden. Unabhängige Medien dienen der politischen und kulturellen Vielfalt, Verfassungsgerichte schützen die individuelle Freiheit gegenüber ungerechtfertigten Forderungen einer Mehrheit. Die AfD hat die Rede von der"Lügenpresse" übernommen und beteiligt sich offen an der Diskreditierung von unabhängigen Medien.

Der Angriff auf das Bundesverfassungsgericht geht subtiler vor. Er zielt aber auch über die Arbeitsweise hinaus auf Diskreditierung. Die AfD spricht davon, sie wolle Misstrauen bei unterlegenen Parteien und der Öffentlichkeit vermeiden. Es geht aber vor allem darum, ein solches Misstrauen zu schüren. Dies macht die Unterstellung deutlich, dass sich "die Richter durch Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden unbequemer, wenn auch berechtigter Beschlüsse entledigen" könnten. Die gleiche Stoßrichtung hat auch der von der AfD eingebrachte "Entwurf eines Gesetzes zur Entpolitisierung der Justiz und der Sicherheitsbehörden".

Das Bundesverfassungsgericht hat kein Misstrauensproblem. Es genießt seit Jahrzehnten das höchste Vertrauen aller politischen und juristischen Institutionen. Davon haben auch extreme rechte Kräfte profitiert, etwa bei der Sicherung der Versammlungsfreiheit. Voraussetzung für diesen Ruf ist die Balance zwischen Zugänglichkeit und Arbeitsfähigkeit.

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