Björn Engholm über die SPD:"Wir müssen uns verjüngen, neu aufstellen, mutig und unkonventionell"

Björn Engholm

Björn Engholm (Archiv 2013): Wenn sich selbst viele arbeitnehmende Wähler in Richtung AfD oder Nichtwählerschaft absetzen, muss man, wenn man diesen Titel Volkspartei halten will, ganz breit neu organisieren

(Foto: picture alliance / dpa)

Ist die SPD mit 20,5 Prozent noch Volkspartei? Wie umgehen mit der AfD? Ein Gespräch mit dem Ex-Parteivorsitzenden Björn Engholm, den Albträume plagten, die jetzt Realität sind.

Interview von Lars Langenau

Björn Engholm, 77, zog mit 29 Jahren in den Bundestag ein und wurde im letzten Regierungsjahr von Helmut Schmidt Bundesminister für Bildung und Wissenschaft. 1987 war er als SPD-Spitzenkandidat für Schleswig-Holstein Ziel einer Schmutzkampagne der Staatskanzlei des damaligen Ministerpräsidenten Uwe Barschel. 1988 gewann die SPD die Landtagswahlen mit 54,8 Prozent der Stimmen und Engholm wurde Regierungschef in Kiel. Von 1991 bis 1993 war er zudem SPD-Vorsitzender und wurde 1992 Spitzenkandidat für die Bundestagswahl. Im Zuge weiterer Ermittlungen zur Barschel-Affäre wurde bekannt, dass er vor einem Untersuchungsausschuss die Unwahrheit gesagt hatte. Im Mai 1993 trat Engholm von allen Ämtern zurück. Heute ist er vor allem im kulturellen Bereich seiner Heimatstadt Lübeck aktiv.

SZ: Herr Engholm, wie haben Sie geschlafen?

Björn Engholm: Miserabel. Ich bin aus Albträumen aufgewacht. Leider war das die Realität. In Lübeck hatten wir gestern Abend noch unseren Wahlkreis gewonnen, aber als ich heute Morgen ins Netz geschaut habe, musste ich sehen, dass die SPD auch den verloren hat.

Wie sahen die Albträume aus?

Dass ein tiefer Riss durchs Land geht und dass es für die Sozialdemokratie mit einem Sprung soweit nach unten geht, dass man sich fragen muss, inwieweit wir noch das Wort "Volkspartei" verwenden können. Daneben gibt es eine CDU, die trotz Regierungspartei, trotz Merkel, trotz internationalem Ansehen so dramatisch verliert - und eine AfD, die aus dem Stand 12,6 Prozent erreicht. Da muss man anfangen zu zweifeln, ob man sich bisher richtig ausgekannt hat in Deutschland oder nicht.

Kann sich die SPD denn noch Volkspartei nennen?

In den Zeiten, in denen ich groß geworden bin und auch später, da hatten wir fast immer 40 Prozent. Daher ist die Halbierung der Zustimmung dramatisch. Wenn sich selbst viele arbeitnehmende Wähler in Richtung AfD oder Nichtwählerschaft absetzen, muss man sich, wenn man diesen Titel Volkspartei halten will, ganz breit neu organisieren.

Was heißt das genau?

Die SPD-Bundestagsfraktion hat jetzt die einmalige Chance, sich richtig zu verjüngen. Alle, die verdienstvoll Parteiarbeit gemacht haben, müssen in den Hintergrund treten. Wir haben in den kommenden zwei Jahren die Möglichkeit, eine komplett neue Generation Frauen wie Männer nach vorne zu schicken. Die soll man üben lassen, damit wir in vier Jahren vielleicht wieder die Regierung übernehmen können. Wir müssen wieder visionäre junge Leute finden und nicht solche, die aus Karrieregründen in die Parlamente gegangen sind. Und wir haben die Chance, endlich mal wieder gute Rhetoriker zu finden, die solide Reden halten können. Wir müssen uns verjüngen, neu aufstellen, mutig, innovativ und unkonventionell.

Gibt es diese Generation denn schon in der SPD?

Wir haben eine ganze Reihe solcher Personen, von Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern bis zum ehemaligen haushaltspolitischen Sprecher Carsten Schneider, auch Andrea Nahles wird noch dazu gehören. Aber dieser Veränderungsprozess beginnt an der Basis.

Man kann die AfD nur systematisch entzaubern

1992 mussten Sie mit der SPD auch mal Verluste von fast neun Prozent ertragen, allerdings auf 46,2 Prozent. Die DVU rückte mit 6,3 Prozent in den Kieler Landtag und wurde drittstärkste Kraft. Wie sind Sie mit denen umgegangen?

Die DVU von damals, das waren echte Neonazis und nicht vergleichbar mit der AfD von heute. Die AfD ist eine Mischung aus Rechtskonservativen bis Rechtsnationalen bis hin zu ganz schlimmen Fingern. Ich glaube, man kann sie nur systematisch entzaubern. Sie sitzt im Parlament und muss tagtäglich in öffentlicher Debatte hinterfragt oder vorgeführt werden, was ihre wirklichen Ziele sind. Sie sind nun einmal gewählt worden und deshalb kann man sie nicht ausschließen oder ausbremsen.

Schulz kündigte sofort nach der Wahl an, die SPD gehe in die Opposition. War das richtig?

Ich habe nicht mitbekommen, wie definitiv das war. Einen Parteivorstandsbeschluss kann es dafür noch nicht geben. Und ich finde, dass sich die SPD Koalitionsverhandlungen mit allen demokratischen Parteien nicht verschließen kann. Aber die Grundsatzentscheidung heißt: Wir sind aus der Regierung abgewählt worden, eigentlich genauso wie die CDU, und unsere Hauptoption heißt Opposition. Nur bevor das Land auseinanderbricht, weil nichts anderes geht, kann man so eine Entscheidung revidieren.

Ist Martin Schulz der richtige Mann für die Erneuerung der SPD?

Ich nehme an, dass er die kommenden zwei Jahre Parteivorsitzender bleibt. In dieser Zeit muss die Partei entscheiden, ob er die einzige Nummer eins ist, die wir haben - oder ob es Alternativen gibt. Schulz ist jetzt gesetzt und gewählt, aber er wird sich selbst in zwei Jahren fragen müssen, ob er wieder die Spitzenrolle übernimmt oder ob das andere besser können.

Was muss er tun?

Martin Schulz muss die Partei reorganisieren, und die Abgeordneten der Bundestagsfraktion, der Länderparlamente und die Kommunalpolitiker dazu bringen, unermüdlich ins Land rauszugehen und an der Gesellschaftsbasis zu arbeiten. Weniger mit Twitter und Facebook, dafür mehr Face-to-Face. Dahin gehen, wo die Leute sind und das direkte Gespräch suchen. Wir müssen wissen, was in diesem Land vor sich geht. Twitter und Facebook ersetzen das nie und nimmer.

Man hört wenig von den ehemaligen SPD-Vorsitzenden, die eigentlich das Gewissen der Partei sein müssten. Wieso?

Das sehe ich anders. Wenn man mal gefragt wird, dann sagt man seine Meinung dazu. Das ist aber selten und unsystematisch, aber dann soll es wohl so sein.

Können SPD und Linke in der Opposition zusammenwachsen?

In der Opposition besteht die Möglichkeit, in einer relativ kurzen Zeit zu testen, wo es Gemeinsamkeiten gibt und Trennendes bestehen bleibt. In der Opposition kann man auch manches gemeinsam machen, was in der Regierung mit der Linken heute noch nicht geht.

In Ostdeutschland liegt die AfD vor der SPD. Was ist dort so schief gelaufen für die Genossen?

Grundsätzlich ist den Menschen im Osten alles abgesprochen worden, was ihr Leben ausmachte. Wir haben nach der Wende alles für grundschlecht erklärt. Und haben ihnen die Wertigkeit ihrer Lebenssituation abgesprochen und nicht begriffen, dass die Menschen da 40 Jahre gelebt, ihre Arbeit gemacht, sich geliebt haben und miteinander befreundet waren. Wir haben dieses Leben niedergemacht, weil wir die SED schrecklich fanden. Auch wir in der SPD haben nicht genug anerkannt, dass die Menschen sich dort ebenso bemüht haben wie wir im Westen. Dieser tiefe Identitätsbruch ist nicht allein ökonomisch zu kitten.

Was hat der Ausgang der Bundestagswahl für Auswirkungen auf den Bayern-Wahlkampf im kommenden Jahr: Rückt die CSU noch weiter nach rechts?

Das vermute ich. Es ist eine Aufgabe der großen Parteien, der Noch-Volksparteien, dass sie ihre Ränder zusammenhalten. Früher hat die SPD das gut geschafft, in dem sie den linken Teil der Gesellschaft einkassiert hat, doch das ist in Teilen der Arbeiterschaft mit der Agenda 2010 unter Gerhard Schröder beendet worden. Die SPD muss aufpassen, dass jetzt nicht noch mehr zur Linken oder in die völlig falsche Richtung abwandert. Die Aufgabe der CDU/CSU ist es jetzt, den rechtskonservativen Rand zusammenzuhalten. Ein bisschen schärfer und spitzer demokratisch rechts argumentieren, wie die CSU es macht, gehört zur Demokratie dazu.

Ihre Prognose für die Wahl in Niedersachsen am 15. Oktober?

Ich hoffe, dass nach diesem furchtbaren Ergebnis bei der Bundestagswahl alle, die die SPD wählen könnten, sich diesmal durchringen werden, es auch wirklich zu tun.

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