Süddeutsche Zeitung

Bundestagswahl:Welchen Einfluss Erdoğan auf das Wahlverhalten der Deutschtürken hat

  • Von den 61,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland haben etwa 1,25 Millionen türkische Wurzeln.
  • Den wenigen Umfragen zufolge, die es dazu gibt, hatten die meisten von ihnen bisher eine eindeutige Präferenz: Sie wählten mehrheitlich SPD.
  • Je höher allerdings der Bildungsstand, desto niedriger die Bereitschaft, für die SPD zu stimmen.

Von Jan Bielicki

Das Treffen fand im Stehen statt, im zugigen Zugang eines Großzeltes ganz in der Nähe von Istanbuls antiker Stadtmauer. Fast zwei Stunden hatte Christian Ude gewartet, bis Recep Tayyip Erdoğan, damals noch türkischer Ministerpräsident, seine Rede vor Mitgliedern seiner Regierungspartei AKP beendet hatte. Dann stand Erdoğan an diesem Abend im August 2005 samt Ehefrau vor Münchens damaligem Oberbürgermeister. Es ging um eine Moschee, die in der bayerischen Landeshauptstadt gebaut werden sollte, und um die wenige Wochen später anstehende Bundestagswahl. Er werde "alles dafür tun", so versprach Erdoğan dem angereisten Sozialdemokraten, "dass Gerhard Schröder Bundeskanzler bleibt".

Der sozialdemokratische Kanzler musste sein Amt nach der Wahl zwar seiner CDU-Konkurrentin Angela Merkel abtreten. Dennoch zeigt die Aussage Erdoğans, welchen Einfluss auf den türkischstämmigen Teil der bundesdeutschen Wählerschaft er sich bereits damals zuschrieb. Zwölf Jahre später mischt er sich, inzwischen zunehmend autokratisch regierender Präsident, ganz offen in den deutschen Wahlkampf ein, und zwar nicht eben im Sinne der SPD. "Niemals" sollten die Türken in Deutschland die CDU oder die Grünen unterstützen - und auch nicht die SPD, tönte er: "Das sind alles Feinde der Türkei."

Doch welchen Einfluss hat Erdoğan wirklich auf das Wahlverhalten der Deutsch-Türken? Immerhin haben von den 61,5 Millionen Wahlberechtigten, die im September Bundesabgeordnete nach Berlin schicken dürfen, etwa 1,25 Millionen türkische Wurzeln. Den wenigen Umfragen zufolge, die es dazu gibt, hatten die meisten von ihnen bisher eine eindeutige Präferenz: Sie wählten mehrheitlich SPD.

Nach der Bundestagswahl 2013 gab die Union Europäisch-Türkischer Demokraten aus Köln, die Erdoğans AKP nahesteht, beim Berliner Meinungsforschungsinstitut Data4U eine Nachwahlanalyse in Auftrag. Danach gaben nicht weniger als 64 Prozent der befragten türkeistämmigen Wähler an, für die SPD gestimmt zu haben. Auch die übrigen Befragten neigten eher nach links von der Mitte: Grüne und Linke kamen demnach auf jeweils zwölf, CDU und CSU zusammen gerade einmal auf sieben Prozent.

Wahlrecht in beiden Ländern hat nur eine kleine Minderheit

Neuere Erhebungen bestätigen diese Zahlen. In einer Umfrage des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) aus dem Jahr 2015 offenbarten sogar knapp 70 Prozent der befragten Türkeistämmigen ihre Neigung zu den Sozialdemokraten. Auch hier lag die Union mit sechs Prozent weit hinter Grünen (13 Prozent) und Linken (zehn Prozent) zurück. Je höher der Bildungsstand, desto mehr nimmt der Hang zur SPD zwar ab. Doch insgesamt sahen die SVR-Forscher eine "stabile Bindung der Türkeistämmigen an die Sozialdemokratie".

Dazu allerdings scheint gar nicht zu passen, dass in Deutschland lebende Türken dem türkischen Präsidenten offensichtlich noch stärker zuneigen als das Wahlvolk in der Türkei selbst. Bei dem hierzulande höchst umstrittenen Referendum im April stimmten mehr als 63 Prozent der Wähler, die sich vor den türkischen Konsulaten in der Bundesrepublik anstellten, für die Ausweitung von Erdoğans Macht. Das waren zwar zum größten Teil hier lebende Türken, die allein die türkische Staatsangehörigkeit besitzen und die den Bundestag nicht mitwählen dürfen. Beide Pässe und damit das Wahlrecht in beiden Ländern hat nur eine kleine Minderheit unter den erwachsenen Deutschtürken.

Aber es gibt Hinweise darauf, dass Erdoğan auch bei vielen Türkischstämmigen mit nur deutschem Pass beliebt ist. Laut der Nachwahlanalyse von Data4U würden 60 Prozent der Befragten, die es hierzulande mit der SPD hielten, bei Türkei-Wahlen für die islamisch-konservative Regierungspartei AKP stimmen. "Viele der hier lebenden Familien haben ihre Wurzeln im ländlichen Anatolien, wo die AKP heute ihre Hochburgen hat", sagt Data4U-Chef Joachim Schulte. Das und die konservative Grundhaltung in Auslands-Gemeinschaften erklären Erdoğans Anziehungskraft. In Deutschland dagegen bestimmte die soziale Lage das Wahlverhalten vieler Gastarbeiter und ihrer Nachkommen. Sie wählten ähnlich wie ihre deutschen Arbeitskollegen SPD - und noch mehr, da die von der Union geführten Debatten über die Leitkultur auf sie "eher befremdlich gewirkt haben", wie es in der SVR-Studie heißt.

Doch wem folgen sie nun, da Erdoğan gegen die SPD wettert und SPD-Chef Martin Schulz gegen Erdoğan? "Dazu, wie und wie nachhaltig die aktuelle Entwicklung die bislang sehr stabilen Parteipräferenzen der Türkeistämmigen verändern könnten, gibt es noch keine neueren Daten", sagt Alex Wittlif, Mitautor der SVR-Studie. Der Meinungsforscher Schulte weist auf eigene Erhebungen, nach denen sich Türkeistämmige wie keine andere Migrantengruppe vor allem in den Fernsehprogrammen ihres Herkunftslandes informieren, Tendenz in den vergangenen Jahren sogar steigend. Deren Inhalte, "die immer mehr in Richtung Propaganda gehen", könnten durchaus ihre Wirkung haben, befürchtet Schulte: "Ich glaube, dass die Beteiligung der Türkeistämmigen bei der Bundestagswahl deutlich runtergeht."

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SZ vom 22.08.2017
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