Das sind Minuten, auf die es ankommt. Auftritt Olaf Scholz auf dem SPD-Parteitag. Nicht zuletzt von dieser Rede hängt ab, ob die Sozialdemokraten und ihr Kanzlerkandidat den Rückstand in den Umfragen aufholen können. Und jetzt steht er da, ein wenig steif, wie festgeklebt am Boden und hält mit beiden Händen das Mikrofon unterm Kinn. War das eine gute Idee der Parteitagsregie?
Alle zehn Finger liegen fest auf dem Mikrofon, als wäre es der Strohhalm, an den die SPD sich mit ihren Wahlhoffnungen noch klammert. Große Gesten fallen damit schon mal weg. An Mimik sollte man von Scholz sowieso nicht allzu viel erwarten. Also zählt jetzt nur noch, was er sagt und wie. Der Kanzlerkandidat, er steht vor einer großen Aufgabe.
Bis zu diesem Auftritt war es ein etwas mühsamer, aber sehr einträchtiger Parteitag. Echte Kontroversen kamen in den dreieinhalb Stunden, in denen die Sozialdemokraten ihr Wahlprogramm finalisierten, nicht auf, sieht man vom zaghaften und letztlich vergeblichen Versuch ab, das Ziel der Klimaneutralität von 2045 auf 2040 vorzuziehen. Zu einer gewissen Sterilität der Debatte trug natürlich auch die komplett jeder klassischen Parteitagsatmosphäre beraubte Form der digitalen Reden aus den heimischen Wohnzimmern bei. Zudem war die Redezeit mit jeweils drei Minuten knapp bemessen, wobei vor allem der Sitzungsleiter Niels Annen selbst viel Zeit damit verbrauchte, immer wieder die Einhaltung der Redezeit anzumahnen.
Die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans wurden der ihnen mittlerweile zugewiesenen Statistenrolle gerecht und priesen den Mann, den sie an der Parteispitze verhinderten, nun als Regierungschef für den Rest des Landes an. "Er ist der, der Kanzler kann", sagte Walter-Borjans. Scholz habe mit "seiner Entscheidungskraft, seiner Führungskraft und seiner Erfahrung" bewiesen, der Richtige an der Spitze des Landes zu sein. Laut Esken steht Deutschland vor einer Richtungsentscheidung zwischen einer "progressiven Regierung" unter Scholz oder einem "konservativen Dornröschenschlaf".
Respekt - dieses Wort stellt Scholz in den Mittelpunkt seiner Kandidatur
Und nun also Scholz. Respekt - so lautet das Wort, das er in den Mittelpunkt seiner Kandidatur gestellt hat. Im ersten halben Jahr hat der Kandidat noch nicht so richtig vermitteln können, was er damit meint. Wird es heute gelingen? "Eine Gesellschaft des Respekts", sagt Scholz, "das heißt: Jede und jeder hat Anspruch darauf, anerkannt zu werden." In einer Gesellschaft des Respekts sei jede und jeder im Land "Gleiche oder Gleicher unter Gleichen".
Es wird dann aber schon konkreter. Eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro verspricht Scholz für das erste Jahr seiner Kanzlerschaft. Aus der Pflegeversicherung sollen nur noch Einrichtungen mit Tarifvertrag finanziert werden. "Jedes Pflegeheim muss seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dann nach Tarifvertrag bezahlen", sagt Scholz. Er will außerdem eine Kindergrundsicherung für alle Kinder einrichten und damit das Wirrwarr aus Kindergeld, Kinderzuschlag und Kinderfreibetrag beseitigen. "Kein Kind soll mehr in Armut aufwachsen."
Auf den Bau von Wohnungen will Scholz einen weiteren Schwerpunkt legen. 400 000 pro Jahr sollen es sein, davon 100 000 im sozialen Wohnungsbau. Weil das dauern wird, hat sich Scholz mit einer Art befristetem Mietendeckel angefreundet und propagiert ihn nun auch in seiner Rede: Wo Wohnungen knapp seien, dürften die Mieten fünf Jahre nur noch um den Inflationsausgleich steigen. Man brauche "eine Atempause für Mieterinnen und Mieter, bis wir die Lage so verbessert haben, dass die Familie, die Krankenschwester, der Polizist überhaupt wieder ein Angebot finden, das sie bezahlen können", sagt der Kandidat.
Und so gibt sich Scholz über lange Passagen hinweg viel Mühe, sehr sozialdemokratisch zu klingen, ein wenig temperamentvoll zu wirken und im Rahmen der digitalen Möglichkeiten etwas Begeisterung zu entfachen. Als ein bedeutendes Stilmittel sind er und seine Redenschreiber auf den kurzen Satz gekommen, kombiniert mit der Wiederholung ähnlicher Motive in immer anderen Worten. Das klingt dann zum Beispiel so: "Wir müssen uns wieder etwas vornehmen! Wir müssen in Gang kommen!" Oder so: "Jetzt geht es um die Zukunft unseres Landes. Jetzt geht es um die Zwanzigerjahre. Jetzt geht es um Deutschlands Weg im 21. Jahrhundert."
Eine weitere Regierung mit der Union sei ein Risiko für das Land
Natürlich nimmt sich Scholz auch den politischen Gegner vor, in erster Linie die Union. Das Dasein in drei großen Koalitionen unter Angela Merkel beschreibt der frühere Arbeits- und heutige Finanzminister so: Die Sozialdemokraten hätten "mit Professionalität und Regierungserfahrung anderen das Handwerk erklären und die Kohlen aus dem Feuer holen müssen". Jetzt wollten sie lieber selber wieder sagen, wo es langgeht. Eine weitere Regierung mit der Union sei ein Risiko für das Land. Manche Attacke kommt allerdings noch sehr konstruiert daher: "Früher hieß es bei den Konservativen ja immer: 'Wir stehen für Maß und Mitte'", erinnert Scholz an einen Lieblingssatz von Angela Merkel und lästert dann: "Heute stehen sie für Maaßen und Maskenschmu."
Olaf Scholz schätzt die Details, und er glaubt offenbar, dass das für seine Zuhörer genau so gilt. Deshalb ist die Rede an ein paar Stellen gefühlt zu Ende, aber noch nicht in echt. Ein Glas Wasser hätte dem Kandidaten während seines Auftritts auch helfen können. Das Wort Zukunftsinvestitionen rollt sich nur sehr schwer über trockene Lippen.
Und so wird es doch eine recht lange Dreiviertelstunde. Aber Scholz denkt ja auch in langen Zeiträumen. "Wenn ich Bundeskanzler bin", sagt der Kandidat, "dann sollen mich die Bürgerinnen und Bürger an einer Zielgröße messen: Wird unser Land im Jahrzehnt bis 2030 ein besseres Land geworden sein?" Das würde bedeuten, dass die Deutschen Scholz nicht nur 2021 wählen, sondern 2025 und 2029 auch bestätigen müssten. In seinem Optimismus lässt er sich wirklich von niemandem übertreffen.