Lange hieß es: Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund wählen die SPD. Russlanddeutsche und andere Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion die Unionsparteien. Das gilt heute nicht mehr, zeigt eine repräsentative Studie der Universität Duisburg-Essen zum Wahlverhalten der beiden Gruppen bei der Bundestagswahl 2017.
SZ: Herr Goerres, Sie haben 1000 Menschen mit Migrationshintergrund in Interviews gefragt, wie sie gewählt haben. Was hat Sie am meisten überrascht?
Achim Goerres: Am meisten überrascht hat mich die niedrige Wahlbeteiligung. Von den Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund gingen nur 64 Prozent zur Wahl, bei den Russlanddeutschen, zu denen wir auch andere Einwanderer aus der Sowjetunion zählten, waren es nur 58 Prozent. In der Gesamtbevölkerung lag die Wahlbeteiligung bei 76,2 Prozent.
Wie erklären Sie sich das?
Es gibt verschiedene Faktoren, die einen Einfluss auf die Wahlbeteiligung haben. Wir müssen aber erst noch im weiteren Verlauf der Studie ermitteln, wie groß dieser Einfluss ist. Zum Beispiel hat die Wahlbeteiligung oft mit der Bildung der Menschen zu tun. Die beiden Gruppen, die wir uns angesehen haben, haben im Schnitt etwas niedrigere Bildungsabschlüsse als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Auf der anderen Seite haben die Russlanddeutschen eine etwas höhere Bildung als die Deutschtürken - und trotzdem wählen sie seltener. Sie sehen also, es spielen auch noch andere Gründe eine Rolle.
Welche?
Beide Gruppen kennen ihren eigenen Angaben zufolge seltener als die Deutschen ohne Migrationshintergrund die Kandidaten der Parteien. Insbesondere jene der kleinen Parteien, zum Beispiel der FDP. Gleiches gilt, wenn man sie bittet, einzelne Positionen der Parteien einzuordnen.
Deutsch-türkische Kolumne "Die Isartürkin":Deutschtürkische Weisheiten zum Jahresende
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Früher hieß es oft: Deutschtürken wählen die SPD, Russlanddeutsche die Union. Gilt das noch?
Dazu muss man sagen, dass es bisher keine stichhaltigen Studien zum Wahlverhalten der Migranten gab, bei deren Schätzungen man besonders sicher sein konnte. Dennoch entspricht es auch meinem Eindruck, dass die türkischen Gastarbeiter lange stark mit der Arbeiterpartei SPD verbunden waren. Die Russlanddeutschen dankten der Union und ihrem langjährigen Kanzler Helmut Kohl, dass sie nach Deutschland kommen durften. Beide Phänomene haben sich in den vergangenen Jahren abgeschwächt. Es ist auch normal, dass sich Migranten mit der Zeit an das Wahlverhalten der restlichen Bevölkerung anpassen.
Von unseren Befragten haben etwa 35 Prozent der Deutschtürken für die SPD gestimmt. Das ist immer noch weit von deren Gesamtergebnis entfernt. Schätzungen von Anfang der 2000er Jahre gingen allerdings noch von einer Zustimmung von 70 Prozent aus. Die Union hat bei den Russlanddeutschen nur noch 27 Prozent der Stimmen erhalten. Auch das ist weit weniger als in früheren Schätzungen.
Wer hat die Stimmen der Russlanddeutschen bekommen? Die AfD, wie viele zunächst vermuteten?
Die AfD hat unter den Russlanddeutschen 15 Prozent der Stimmen erhalten. Das ist nur wenig mehr als in der Gesamtbevölkerung. Weit besser als im Rest der Bevölkerung hat die Linkspartei in dieser Gruppe abgeschnitten. Sie landete mit 21 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz. Das hat unserer Einschätzung nach unter anderem mit einer gewissen Sowjetnostalgie zu tun, der ältere Russlanddeutsche anhängen.
Woher kam dann der Eindruck von der AfD als Partei der Russlanddeutschen?
Das war ein klassischer Medienhype. Es gab einprägsame Bilder, zum Beispiel von Demonstrationen, auf denen Russlanddeutsche Plakate gegen die deutsche Flüchtlingspolitik hochhielten. Außerdem gab es Ortsteile in einigen Städten, in denen viele Russlanddeutsche lebten - und in denen die AfD in vorherigen Wahlen gute Ergebnisse erzielt hatte. Daraus zu schließen, dass die AfD unter den Russlanddeutschen besonders beliebt ist, ist jedoch hochproblematisch. Erstens weiß man ja nicht, ob tatsächlich die dort lebenden Russlanddeutschen für die guten Ergebnisse verantwortlich sind. Und zweitens sind die Leute, die in solchen Stadtteilen leben, nicht repräsentativ für alle Russlanddeutschen.
Wie ist die Einstellung der Russlanddeutschen zur russischen Politik?
Sie beurteilen den russischen Präsidenten Wladimir Putin leicht positiv - und besser als die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Eine Mehrheit, nämlich 60 Prozent, unterstützt auch dessen Vorgehen auf der Krim. 40 Prozent sprechen sich dagegen aus. Einen großen Einfluss hat die Herkunft der Befragten. Russlanddeutsche kamen ja aus unterschiedlichen Regionen der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. So finden zum Beispiel nur 30 Prozent der Einwanderer aus der Ukraine das russische Vorgehen auf der Krim gut.
Was hat sie in den Befragungen der Deutschtürken überrascht?
Es zeigte sich, dass die Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eindeutig negativ bewerten. Sie haben auch, sofern sie über die doppelte Staatsbürgerschaft verfügen, mit großer Mehrheit gegen den Reformvorschlag gestimmt, in dem es unter anderem um die Wiedereinführung der Todesstrafe ging. Darin unterscheiden sie sich sehr stark von der Gesamtheit aller türkischen Referendumswähler in Deutschland, unter denen viele keinen deutschen Pass haben.
Interessant war auch eine Beobachtung rund um die Partei Allianz Deutscher Demokraten, die sich an muslimische und türkeistämmige Deutsche wendet und als Sprachrohr der türkischen Regierung gilt. Sie ist zur Bundestagswahl nur in Nordrhein-Westfalen angetreten, hat aber dort zwölf Prozent der Stimmen bekommen. Dafür waren vor allem türkeistämmige Deutsche der zweiten Generation verantwortlich. Da gibt es offenbar eine gewisse Unzufriedenheit mit den etablierten deutschen Parteien, die man sich ansehen muss.
Wie finden Ihre Befragten deutsche Politiker?
In ihrem Urteil über Angela Merkel oder Martin Schulz ähneln unsere Studienteilnehmer sehr der restlichen Bevölkerung, auch hier schneidet die Kanzlerin besser ab als der ehemalige Kanzlerkandidat. Spannend war für uns die Personalie Cem Özdemir. Unter den Deutschtürken kannten ihn fast alle, was ungewöhnlich ist für einen Politiker der Grünen. Allerdings bewerteten sie ihn im Schnitt schlechter als der Rest der Bevölkerung. Das ist insofern überraschend, als er ja als Erdoğan-Kritiker gilt, den unsere Befragten auch kritisch sehen.