Der Parteichef steht an einem trüben Septembermorgen auf einer Trittleiter und kämpft mit einem Stück Kabelbinder. "Jetzt hab ich mich verquatscht", sagt Felix Werth. Von den beiden Plakaten, die er zusammenbinden wollte, steht eines auf dem Kopf. Er fädelt also nochmal neu ein, dann hängt er seine Botschaft an einen Laternenmast vor dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg, eine Hand breit unter das Plakat der Grünen. "Partei für Gesundheitsforschung", steht darauf, "für die schnellere Entwicklung wirksamer Medizin gegen Alterskrankheiten."
Felix Werth, runde Brille, Pferdeschwanz, ist der Chef der "Partei für Gesundheitsforschung". 2015 hat er sie gegründet. Am Anfang waren sie zu viert, inzwischen haben sie 172 Mitglieder. Bei der Bundestagswahl stellt die Partei drei Landeslisten, in Bayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen. Werth ist ihr einziger Direktkandidat, in eben jenem Wahlkreis Berlin-Lichtenberg, wo er an diesem Morgen Plakate aufhängt. "Die besten Plätze sind vor Bushaltestellen und Bahnhöfen", sagt er. "Wenn die Leute stehen bleiben und warten, haben sie Zeit, sich in Ruhe unsere Forderungen durchzulesen."
42 Parteien treten dieses Mal bei der Bundestagswahl an, die meisten von ihnen sind weitgehend unbekannt. Wenn - wie in diesen Tagen - darüber debattiert wird, ob ihre Wahl eine verschenkte Stimme ist, geht dabei unter, wofür die Parteien eigentlich stehen. Unter ihnen sind erklärte Spaßparteien und solche, die krude Thesen vertreten. Mal rechts, mal links, mal religiös-fundamentalistisch. Es gibt aber auch diejenigen, die ein ernst zu nehmendes politisches Programm verfolgen - oder das zumindest glauben machen wollen. Zeit also für eine Erkundungsreise in den Mikrokosmos der Demokratie. Sie führt nicht nur zu Gesundheitsforschern, sondern auch zu Religionskritikern und Hip-Hoppern.
Werth klappt seine Trittleiter ein und läuft die Straße hinunter, vorbei am "Weitling Späti" und an der "Grünen Lunge", einem Laden für E-Zigaretten. Ein weiteres Plakat hängt er an eine Laterne vor den örtlichen Supermarkt, dann noch eins vor die "Kita Sonnenblume". Wenn Werth spricht, fällt immer wieder eine Zahl: 0,5 Prozent. Sie ist das magische Ziel für die Wahl am Sonntag, nicht nur für die "Partei für Gesundheitsforschung". Jede Partei, die bundesweit auf mindestens 0,5 Prozent der Stimmen kommt, hat laut Parteiengesetz Anspruch auf staatliche Parteifinanzierung. Für jede gültige Wählerstimme gibt es dann 83 Cent.
Das Wahlkampfbudget: 4200 Euro
Werth hat sich überlegt, was das für seine Partei bedeuten würde. 0,5 Prozent der Stimmen, das wären etwa 200 000 Wähler und damit fast ebenso viel Geld. "Was wir damit alles machen könnten", sagt er. "Wir könnten hauptamtliche Mitarbeiter einstellen, die sich um den Wahlkampf kümmern. Wir könnten eine Online-Kampagne fahren und viel mehr Plakate drucken."
Für den Bundestagswahlkampf hatte die "Partei für Gesundheitsforschung" 4200 Euro. Sie gaben 1000 Plakate in Auftrag, damit war die Kasse leer. Das ist der Grund, warum Werth immer erst einen Moment überlegt, bevor er ein Plakat aufhängt. Jedes einzelne ist kostbar.
Werth ist überzeugt, dass das, was er tut, sinnvoll ist. Die Forderung seiner Partei lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Die Bundesregierung soll mehr Geld in die Erforschung altersbedingter Krankheiten stecken. "Aktuell werden etwa 0,8 Prozent des Bundeshaushalts für die Gesundheitsforschung ausgegeben", sagt er. "Wir fordern ein Prozent zusätzlich, also etwa drei Milliarden Euro pro Jahr mehr."
Sein Aha-Erlebnis habe er Anfang 2012 gehabt, erzählt er. Im Internet sei er damals auf Artikel von Wissenschaftlern gestoßen, die besagen, dass es in der Gesundheitsforschung in den nächsten Jahrzehnten Durchbrüche geben könnte, zum Beispiel bei der Suche nach Medikamenten gegen Krankheiten wie Krebs und Alzheimer. Um das zu erreichen, müsse allerdings stärker in die Wissenschaft investiert werden. "Mir war sofort klar, dass ich das unterstützen möchte. Man sieht doch, wie viele Leute im Alter an solchen Krankheiten leiden."
Vor der Bundestagswahl zog Werth wochenlang durch die Straßen, bis er genügend Unterschriften beisammen hatte: 2000 für die Landesliste, 200 für seine Direktkandidatur. "Dafür muss man sich auf die Straße stellen, denn man braucht die Unterschriften im Orginal. Facebook oder so hilft da nicht viel."
Eines sei ihm wichtig, sagt Werth, während er das für diesen Tag letzte Plakat vor dem Bahnhof aufhängt: "Ich möchte eigentlich kein Politiker sein. Unser Ziel als Partei ist es, überflüssig zu werden." Werth will so viele Wählerstimmen bekommen, dass die großen Parteien auf seine Forderung aufmerksam werden und sie ins Programm nehmen. "Dann ist unsere Arbeit erledigt."
Constantin Huber und Lorenz Bölter planen demgegenüber deutlich langfristiger. "Wir wollen uns dauerhaft im Politikbetrieb etablieren", sagt Huber. Bölter nickt. Die beiden sitzen im Bundesvorstand der "Partei der Humanisten", Huber ist auch stellvertretender Bundesvorsitzender. Die beiden sind Mitte zwanzig und studieren noch, doch als Juniorpolitiker wollen sie nicht abgetan werden. Für ein Treffen haben sie das "Café Einstein" an der Friedrichstraße in Berlin vorgeschlagen, von dem es heißt, dass sich hier hin und wieder Politiker, Geschäftsleute und Journalisten treffen. Der Bundestag, in den sie irgendwann einmal einziehen wollen, ist keine zwei Kilometer entfernt.
Die Humanisten wollen eine "Vollprogramm-Partei" sein
"Unser Kernanliegen ist die Trennung von Staat und Religion", sagt Bölter, der T-Shirt und Vollbart trägt. Er hat auch einen Flyer dabei, auf dem die wichtigsten Forderungen aufgelistet sind. "Abschaffung der Kirchensteuer" steht zum Beispiel darauf, aber die ist nicht das einzige, was die Humanisten abschaffen wollen. Der Religionsunterricht soll durch einen flächendeckenden Ethikunterricht ersetzt, der Gotteslästerungsparagraf aus dem Gesetz gestrichen und die Verträge zwischen Staat und Kirche gekündigt werden. "Aber es geht nicht nur um das Christentum, sagt Bölter, "der Staat soll keine Religion bevorzugen." Also zum Beispiel auch nicht mit muslimischen Verbänden zusammenarbeiten. Dann sagt er einen Satz, der schon sehr nach etabliertem Politiker klingt: "Da sehen wir dringenden Handlungsbedarf."
Anders aber als die "Partei für Gesundheitsforschung" konzentrieren sich die Humanisten nicht nur auf ein Thema. "Wir sind eine Vollprogramm-Partei", sagt der stellvertretende Vorsitzende Huber. Er trägt Hemd und Lederschuhe und macht gerade ein Praktikum im Arbeitsministerium. Das Grundsatzprogramm umfasse 30 Punkte aus nahezu allen Politikbereichen, erklärt er. Darin steht etwa, dass die Humanisten Drogen legalisieren und ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen möchten.
Für die Bundestagswahl hat die Ende 2014 gegründete Partei ein klares Ziel, sagt Huber, auch wenn 0,5 Prozent der Stimmen für sie noch illusorisch seien. "Wir wollen im Internet die reichweitenstärkste Kleinpartei werden. Huber ist da durchaus optimistisch: Ein Post der Humanisten sei zuletzt 1300 Mal gelikt worden. Da könnten selbst die Piraten nicht mithalten.
Was für Huber und Bölter die Kirchenkritik ist, das ist für Frithjof Zerger die Musik. Während die Humanisten die Gesellschaft durch die Trennung von Staat und Religion verbessern wollen, glaubt Zerger, dass es vor allem an den richtigen Beats fehlt.
"Wir brauchen Hip-Hop als Werteanker", sagt Zerger. Er sitzt in einem Café in Berlin-Kreuzberg, ein paar Schritte weiter hängt sein Plakat an einem Laternenmast. Zerger formt darauf mit seinen beiden Händen ein Herz und lächelt in die Kamera. Zerger ist der Direktkandidat für "Die Urbane" im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg, die Partei trägt den Zusatz "Eine Hip-Hop-Partei." Zum Gespräch hat er eine weitere Parteiaktivistin mitgebracht, die sich als "Fluky" vorstellt und als DJ arbeitet. Wie sie wirklich heißt, möchte sie lieber nicht sagen.
Von manchen wird die "Hip-Hop-Partei" als Spaßvereinigung wahrgenommen, aber Zerger und Fluky versichern, dass es ihnen ernst ist. Einerseits kämpfen sie dafür, dass die Hip-Hop-Kultur mehr Anerkennung erfährt. "Hip-Hop ist zeitgenössische Kunst, und wir wollen, dass sie auch so wahrgenommen wird", sagt Fluky. Das solle sich zum Beispiel im Bildungssystem niederschlagen. "Raptexte eignen sich hervorragend für Analysen im Deutschunterricht, und im Kunst- und Musikunterricht sollte es öfter um Breakdance und Street Art gehen."
Hip-Hop als Rezept gegen die AfD
Wichtiger aber noch sei, wofür die Musik politisch stehe. "Hip-Hop ist egalitär", sagt Zerger. "Es spielt keine Rolle, welche sexuelle Orientierung du hast oder woher du kommst. Du gehörst dazu." Hip-Hop sei daher gerade in diesen Zeiten wichtig, argumentieren sie, "wo rechtes Gedankengut und Parteien wie die AfD wieder stärker werden."
Zerger ist seit dem Frühjahr bei der "Urbanen", er hat auch an ihrer Satzung mitgeschrieben. Seit Langem schon habe er sich politisch engagieren wollen, erzählt er, auch, weil er in seinem normalen Job "strikt weisungsgebunden" arbeiten müsse. Zerger arbeitet als Beamter im Bundesinnenministerium, Referat M2, "Visumfragen und Einreise". Bei der Wahl am Sonntag glaubt er an seine Außenseiterchance. "In meinem Wahlkreis treten 18 Direktkandidaten an. Da braucht es gar nicht so viele Stimmen, um durchzukommen", sagt er und grinst. Er weiß wohl selbst, dass das etwas zu optimistisch ist.
Für die meisten Politiker ist der große Moment am Sonntag um 18 Uhr, wenn die ersten Hochrechnungen veröffentlicht werden. Dann wissen sie, ob die Wahl erfolgreich lief, und oft wissen sie auch schon, ob sie persönlich es wieder ins deutsche Parlament schaffen. Für Politiker wie Felix Werth, Constantin Huber oder Frithjof Zerger aber kommt der große Moment viel später, da ihre Ergebnisse zunächst hinter dem grauen Balken "Sonstige" verschwinden. Sie müssen auf das vorläufige amtliche Endergebnis warten - und das steht meist erst am frühen Montagmorgen fest.