Am Anfang stand der Lockdown, noch vor dem Ende entstand ein Buch. Unter dem Eindruck der Pandemie hat Wolfgang Schäuble mit Unterstützung der Publizisten Jacqueline Boysen und Hilmar Sack ein Werk herausgegeben, das eine Mischung aus Kompendium und Sammelsurium ist - angereichert mit Interviews und autobiografischen Details des CDU-Politikers.
Vieles kommt einem bekannt vor: Es sind Standpunkte und Überlegungen, die Schäuble bereits als Bundestagspräsident in Interviews, Reden oder Beiträgen formuliert hat - gebündelt in einem Buch, das an diesem Montag erscheint: analytisch und klar, wie man es von ihm gewohnt ist.

Bürgerrat des Bundestags:Wie Bürger die Politik beraten
152 zufällig ausgewählte Deutsche haben in einem Bürgerrat Empfehlungen zu "Deutschlands Rolle in der Welt" erarbeitet - erstmals im Auftrag des Bundestages. Wie hat das funktioniert und was passiert mit den Ergebnissen?
Das Werk spannt den Bogen über die ganz großen Themen dieser Zeit - von der Freiheit über die Demokratie bis zu nachhaltigem Wachstum und Migration. Am Anfang jedes Kapitels gibt es intellektuell anspruchsvolle Abhandlungen, bei denen an den richtigen Stellen kluge Denker zitiert werden - auffallend viele Historiker von Christopher Clark über Dan Diner bis zu Heinrich August Winkler. Es ist ein Zitatenfundus für jeden, der zu einem dieser Themen mitreden will.
Zu jedem Thema gibt es ein Interview mit jeweils einer Expertin oder einem Experten, das von der Journalistin Tina Hildebrandt oder einem ihrer Kollegen, Rainer Hank oder Jacques Schuster, moderiert wird. Es sind Gespräche auf hohem Niveau, in dem man sich wechselseitig Wertschätzung zuteilwerden lässt. Selten, wie bei jenem Gespräch von Schäuble mit dem Soziologen Armin Nassehi, blitzt auch Humor auf.
Ein Streitgespräch ist es in den meisten Fällen nicht. Eine Ausnahme ist die Auseinandersetzung Schäubles mit der Polit-Ökonomin Maja Göpel, die das Berliner Büro des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt und Energie leitet. Hier werden unterschiedliche Standpunkte deutlich.
Die Erfindung der Schuldenbremse weist Schäuble von sich
Der CDU-Politiker macht dabei klar, dass er den von Kanzlerin Angela Merkel eingeleiteten abrupten Ausstieg aus der Atomenergie nach der Katastrophe von Fukushima für einen Fehler hält. "Das hatte etwas Zwanghaftes an sich", so Schäuble. Er verweist auf das Festhalten an dieser Energiequelle in anderen Ländern: "Wenn alle in der anderen Richtung fahren, muss man sich schon gut überlegen, ob man selbst richtig unterwegs ist." Er plädiert für AKWs, für "den Bau einer neuen, effizienteren Generation von Kraftwerken mit höchsten Sicherheitsstandards".
Direkte Kritik an Merkel vermeidet Schäuble. Der frühere Finanzminister nutzt das Buch auch als Rechtfertigung seiner bekannten Positionen - was manchmal etwas Rechthaberisches hat, etwa zur Begrenzung der Staatsausgaben: "Wenn in Deutschland in der Vergangenheit nicht so gut gewirtschaftet worden wäre, gäbe es jetzt nicht die notwendigen Handlungsspielräume, um die uns andere beneiden."

Er fühlt sich auch bemüßigt, "einer weit verbreiteten Fehlannahme entgegenzuwirken", dass die Regel zur Schuldenbegrenzung im Grundgesetz von ihm stamme - es sei vielmehr das Werk seines sozialdemokratischen Vorgängers Peer Steinbrück gewesen. "Die Schuldenbremse ist kein christdemokratischer Fetisch, aber sie hat einen ordnungspolitischen Sinn, den wir für die Zukunft nach Corona nicht ignorieren sollten."
Diese Form von Ratschlägen erteilt Schäuble, der seit 1972 dem Bundestag angehört und vom Verlag als "Deutschlands erfahrenster Politiker" angepriesen wird, immer wieder. Es geht ihm erkennbar um sein Vermächtnis, aber auch um das, was er noch weitergeben kann und will.
Dabei wird deutlich, dass er vor allem für ein Thema wirklich brennt: die EU. Da wird Schäuble emotional und konkret - was er in seinen anderen Analysen oft vermissen lässt. Schäuble treibt sein Modell eines Kerneuropa, das er erstmals 1994 in einem gemeinsam mit Karl Lamers verfassten Positionspapier vorgestellt hat, weiter - einzelne Staaten sollen in der Integration voranmarschieren und die anderen mitziehen. Am Ende würde eine Art Vereinigte Staaten von Europa stehen, ein "föderatives Europa".
Corona-Passagen sind schon veraltet
Schäuble plädiert für eine Verschmelzung des Amtes des EU-Kommissionspräsidenten mit jenem des EU-Ratspräsidenten, der durch die EU-Wahl direkt gewählt werden und dann seine Mannschaft selbst zusammensuchen können soll.
Auch für eine Schuldenunion ist Schäuble - was er in der Euro-Krise in Zusammenhang mit Griechenland noch vehement abgelehnt hat. "Wenn wir eine ever closer union anstreben, dann muss diese Union sowohl Kredite aufnehmen dürfen als auch Einnahmen beziehen."
Zu den schwächeren Passagen gehört der Anlass des Buches, was wir alle, aber insbesondere die Politiker aus der Pandemie lernen sollten. Schäuble plädiert dafür, die getroffenen Maßnahmen "immer wieder zu hinterfragen", und rechtfertigt sich noch einmal für seinen Satz, "dass wir nicht um jeden Preis jedes Leben schützen können und alles andere dahinter zurücktreten muss".
Zumindest jene Stellen, in denen Schäuble feststellt, Deutschland sei "im letzten Jahr in vielem über sich hinausgewachsen" und habe eine "ungeahnte Beweglichkeit" erlebt, sollte angesichts des Missmanagements in vielen Bereichen noch einmal überarbeitet werden. Der nächste Lockdown bietet die Gelegenheit dazu.