Bundestagsdebatte zu Verbrechen an den Armeniern:"Bei Völkermord hört die Abwägung auf"

Bundestag zu Massakern an Armeniern

Armenische Demonstranten am Freitag vor dem Reichstagsgebäude in Berlin.

(Foto: dpa)
  • Zum 100. Jahrestag der Verfolgung und Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich debattiert der Bundestag darüber, ob man die Verbrechen als "Völkermord" bezeichnen soll.
  • Die Bundesregierung wird dabei für ihre anfängliche Zurückhaltung kritisiert. Sie hatte zunächst auf den Begriff "Völkermord" verzichten wollen, um die Türkei nicht zu verärgern.
  • Auch die deutsche Mitschuld an den Verbrechen gegen die Armenier kam in der Debatte zur Sprache.

Von Nico Fried, Berlin

Die Debatte war in gewisser Weise schon vorbei, bevor sie begonnen hatte. Norbert Lammert begrüßte um neun Uhr am Donnerstagmorgen die Kolleginnen und Kollegen im Plenum und blieb dann vor dem Aufruf des ersten Tagesordnungspunktes für eine kurze Ansprache stehen. Dieses Recht nimmt er sich gelegentlich - besonders wenn er findet, dass es auch eines Kommentars des Parlamentspräsidenten zu einem wichtigen Anlass bedarf.

Der Anlass an diesem Tag war der 100. Jahrestag der Verfolgung und Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich. Lammert zitierte die Definition eines Genozids im Völkerrecht und fügte gleich hinzu: "Das, was im 1. Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, war ein Völkermord." Dieses eindeutige Statement war nach den Diskussionen der vergangenen Tage dann doch eine kleine Überraschung, denn der Präsident nahm damit ja eigentlich die Wertung schon vorweg, über die in der folgenden Stunde erst noch diskutiert werden sollte.

Beifall aus dem ganzen Plenum

Freilich hätte sich Lammert darauf berufen können, dass der Begriff des Völkermordes in allen Anträgen zum Gedenken enthalten ist, bei Linken und Grünen sowieso, aber mittlerweile eben auch im Antrag der Koalitionsfraktionen Union und SPD. Folglich erhielt der Bundestagspräsident am Ende auch Beifall aus dem ganzen Plenum - nur nicht von der Regierungsbank, auf der Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier Platz genommen hatten. Allerdings hatte das nichts zu bedeuten, denn es ist schlicht nicht üblich, dass auf der Regierungsbank applaudiert wird.

Erst allmählich war in den vergangenen Tagen die Bereitschaft in der Bundesregierung gewachsen, sich einer Aufnahme des Begriffs des Völkermordes in den Antrag der Koalitionsfraktionen nicht länger zu widersetzen. Das wichtigste in der Öffentlichkeit vorgetragene Argument für die ursprüngliche Zurückhaltung hieß, dass man den Aussöhnungsprozess zwischen Armeniern und Türken nicht gefährden wollte. Ebenfalls von Bedeutung dürfte aber auch gewesen sein, dass man den Nato-Partner Türkei, der den Begriff des Völkermordes vehement ablehnt, nicht brüskieren wollte.

Bewegung kam schließlich in die Sache, als sich nicht nur der Unmut vieler Abgeordneter offenbarte, sondern auch, als bekannt wurde, dass der Bundespräsident am Vorabend der Bundestagsdebatte den Begriff Völkermord benutzen würde. Grünen-Parteichef Cem Özdemir dankte dann auch als erstes Joachim Gauck und würdigte "eine gewisse Portion Unbeirrbarkeit". Dieses Lob erweiterte er auf den Bundestagspräsidenten - nur die Mitglieder der Bundesregierung könne er da nicht einschließen. Diese habe "nur das Narrativ der türkischen Regierung wiederholen wollen", wonach es sich nicht um einen Völkermord gehandelt habe. "Ich verstehe das nicht", so Özdemir. Er unterstelle zwar gute Absichten, aber er glaube nicht, dass eine solche Haltung zur Versöhnung beitragen könne.

Kein Mitglied der Bundesregierung ergreift das Wort

Niemand in der mehr als einstündigen Debatte wich von dem ab, was mittlerweile erkennbar deutliche Mehrheitsmeinung im Parlament ist. Kein Mitglied der Bundesregierung ergriff das Wort. In der Rede von Gernot Erler (SPD), einst Staatsminister im Auswärtigen Amt, spürte man noch am ehesten die Spuren der schwierigen Abwägung für manchen Parlamentarier. Erler sprach etwas verschwiemelt von der "genozidalen Verfolgung" der Armenier, richtete aber den Blick auch alsbald in die Gegenwart und warb dafür, den Aussöhnungsprozess zwischen Armeniern und Türken zu unterstützen. Die Debatte im Bundestag solle auch ein Signal der Hilfsbereitschaft senden, so Erler.

Sehr viel deutlicher wurde später Erlers Parteifreund Dietmar Nietan. Er war es, der die Unzufriedenheit vieler Abgeordneter mit der Zurückhaltung der Bundesregierung vor einigen Tagen in einem Interview im Deutschlandfunk als einer der ersten unmissverständlich öffentlich gemacht hatte. Nun, in seiner Rede im Bundestag, zitierte Nietan eine Mahnung aus der Rede des Auschwitz-Überlebenden und Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel im Jahr 2000 am selben Rednerpult. "Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal." Deshalb sei es wichtig, auch für die Verfolgung der Armenier den Begriff des Völkermordes zu verwenden, so Nietan.

Die Linke Ulla Jelpke dankte jenen Abgeordneten von Union und SPD, die darauf gedrängt hatten, das Wort Völkermord gegen den ursprünglichen Willen der Bundesregierung in den Antrag der Koalition aufzunehmen. Trotzdem ging ihr die etwas verklausulierte Formulierung nicht weit genug. Auch die Rolle der Deutschen werde von Union, SPD, aber auch von den Grünen nicht ausreichend klargestellt. Nietan hatte gesagt: "Wir sollten uns beim armenischen Volk für die damalige Gleichgültigkeit des Deutschen Reiches entschuldigen." Nach Meinung der Linken aber habe es sich eindeutig um Beihilfe zum Völkermord gehandelt, so Jelpke. Die Bundesregierung müsse "vorbehaltlos zur Mitverantwortung des Deutschen Reiches stehen" - und der Bundestag müsse bei den Armeniern um Verzeihung bitten. Auch Christoph Bergner (CDU) betonte "die besondere moralische Verpflichtung, uns zu deutschen Fehlern und deutscher Schuld zu bekennen". Neben den Osmanen sei das Kaiserreich "der am tiefsten involvierte Staat" gewesen. Bergners juristische Definition dafür: unterlassene Hilfeleistung.

Bergner ging aber auch ausführlich auf die Diskussionen der vergangenen Tage ein. Er verstehe all jene, "die um der Versöhnung willen jede polarisierende Formulierung vermeiden wollen". Damit dürfe aber nicht verharmlost oder relativiert werden, so Bergner. Richtig sei, dass der Begriff und der Straftatbestand des Völkermords vor 100 Jahren noch nicht bestanden habe. "Aber ist das ein Grund, die Verwendung des Völkermordes für unangebracht zu halten?"

Sein Parteifreund, Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, spitzte noch deutlicher zu: Man sei es den Opfern schuldig, die Wahrheit beim Namen zu nennen. Es sei keine Reduktion des Geschehens auf einen Begriff. Vielmehr beschreibe nur dieser Begriff die wirkliche Dimension des Geschehens. Abwägung zwischen Argumenten sei ein Vorzug der Demokratie. "Aber bei Völkermord hört die Abwägung auf", so Röttgen.

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