Ukraine und Deutschland:Russland weist Holodomor-Ächtung als "Provokation" zurück

Ukraine und Deutschland: Das historische Foto von 1932 zeigt den Abtransport von Getreide aus der Region Charkiw.

Das historische Foto von 1932 zeigt den Abtransport von Getreide aus der Region Charkiw.

(Foto: Imago)

Der Bundestag hat die Hungersnot in der Ukraine als sowjetisch verordneten Völkermord anerkannt. Moskau reagiert mit dem Vorwurf, Deutschland wolle von eigener Schuld ablenken.

Russland hat die Entscheidung des Bundestages scharf kritisiert, die Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932/33 als sowjetisch verordneten Völkermord anzuerkennen. Dies sei als antirussische Provokation und als Versuch Deutschlands zu werten, seine Nazi-Vergangenheit beschönigen zu wollen, teilte das russische Außenministerium am Donnerstag mit. Zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodomir Selenskij die Entscheidung des Bundestages begrüßt, den sogenannten Holodomor, bei dem Millionen Ukrainer starben, zum Völkermord zu erklären. Mehrere andere EU-Länder, darunter die baltischen Staaten und früheren Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, erkennen den Holodomor ebenfalls als Völkermord an.

Im November 1932 hatte der sowjetische Machthaber Josef Stalin das gesamte Getreide und Vieh der neu kollektivierten ukrainischen Bauernhöfe beschlagnahmen lassen, einschließlich des Saatguts für die nächste Ernte. Millionen von ukrainischen Bauern verhungerten daraufhin in den folgenden Monaten. Russland - wie die Ukraine ein Nachfolgestaat der Sowjetunion - hat die Einschätzung stets zurückgewiesen, dass es sich um einen Völkermord handelte.

Damals hätten Millionen von Menschen auch in anderen Teilen der Sowjetunion gelitten, lautet die Argumentation. "Es gibt einen weiteren Versuch, eine Kampagne zu rechtfertigen und voranzutreiben, die in der Ukraine initiiert und vom Westen unterstützt wird, um Russland zu dämonisieren und ethnische Ukrainer gegen Russen auszuspielen", teilte das russische Außenministerium am Donnerstag in einer Erklärung mit. "Die Deutschen versuchen, ihre Geschichte umzuschreiben ... ihre eigene Schuld herunterzuspielen und die Erinnerung an die beispiellose Natur der zahllosen Verbrechen, die von Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs begangen wurden, zu verwischen", heißt es in der Erklärung.

Die Erinnerung an den Holodomor ist für Ukrainer zentral

Die Regierung in Moskau wirft der Ukraine regelmäßig faschistische Tendenzen vor und hat damit auch den Einmarsch russischer Truppen in das Nachbarland am 24. Februar gerechtfertigt. Nun wird auch dem Bundestag unterstellt, er wolle "die faschistische Ideologie des Rassenhasses" wiederbeleben. Für die Ukrainer ist die Erinnerung an den Holodomor zentraler Bestandteil der Identität des Landes als unabhängiger Nationalstaat und ein Beweis für das historische Unrecht, das den Ukrainern von den Machthabern in Moskau angetan wurde.

Mit großer Mehrheit hatten die Abgeordneten des Bundestags am Mittwochabend einen gemeinsamen Antrag von Ampelkoalition und Unionsfraktion gebilligt, in dem von einem "menschenverachtenden Verbrechen" die Rede ist. Das Streben der sowjetischen Führung nach einer Kontrolle der Bauern sei damals mit der Unterdrückung der ukrainischen Lebensweise, Sprache und Kultur verschmolzen, heißt es in der Bundestagsdrucksache. "Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung."

In der Bundestagsdebatte verurteilten alle Fraktionen den Holodomor, doch die AfD und die Linke enthielten sich bei der Abstimmung über den Antrag. Der AfD-Abgeordnete Marc Jongen sprach von einer "Instrumentalisierung der Geschichte" und wandte sich gegen eine "historische Gleichsetzung" mit dem heutigen Ukraine-Krieg. Gregor Gysi von der Linken warnte zudem vor einer möglichen Gleichsetzung von Adolf Hitler und Josef Stalin: "Stalin war schlimm, sehr schlimm, aber kein Hitler." Das Osteuropa-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, Renovabis, dankte dem Bundestag unterdessen für seinen Beschluss und schlug ebenfalls einen Bogen zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine: Durch die gezielte Zerstörung von Infrastruktur werde den Menschen dort erneut die Lebensgrundlage genommen, beklagte Hauptgeschäftsführer Thomas Schwartz.

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