Bundestag:Kakofonie der politischen Halbriesen und Zwerge

Die Generaldebatte im Bundestag böte Gelegenheit zu einer Abrechnung mit dem Unionschaos der vergangenen Tage. Doch die Opposition macht wenig daraus - Bartsch und Lindner treffen den wunden Punkt von CDU und CSU.

Von Jens Schneider, Berlin

Das ist auch eine Art zu zeigen, dass man seinen Posten hält. Gut eine Viertelstunde vor der als groß gedachten Generaldebatte im Bundestag ist der Plenarsaal naturgemäß noch fast leer. Erst recht sind die Plätze auf der Regierungsbank noch unbesetzt - bis auf einen in der ersten Reihe. Für sich allein sitzt da mit geradem Rücken der Doch-immer-noch-da-Horst aus Bayern und schaut so vor sich hin. Andere Minister bringen sich ja gern Akten mit, um darin zu blättern, oder suchen ständig neue Erkenntnisse in ihrem Mobiltelefon. Der CSU-Chef und Bundesinnenminister Horst Seehofer sitzt einfach da, in stiller Erwartung einer Debatte, in der er nicht reden, aber in der sich viel um sein Verwirrspiel drehen wird, das die Unionsparteien in eine schwere Krise stürzte.

Die Generaldebatte gilt als die ideale Gelegenheit für die Opposition, mit der Regierung abzurechnen, und die Irrnis der vergangenen Tage sollte sich für ihre Redenschreiber wie ein Geschenk angefühlt haben.

Als Erste darf Alice Weidel ans Rednerpult, die Fraktionschefin der AfD. Die Regierungsbank ist inzwischen ebenso gut besetzt wie der Saal, wobei übrigens auffällt, dass auch bei der AfD längst nicht mehr alle Abgeordneten es in die Sitzungen schaffen, nicht einmal zu dieser - obwohl sie doch so gern durch Präsenz zeigen wollen, dass sie ihren Auftrag als Parlamentarier ernster nähmen als die Abgeordneten der anderen Parteien. Weidel eröffnet mit einem heiklen Satz, der ihr sofort Gelächter von der Konkurrenz einbringt, die Doppeldeutigkeit lädt dazu ein. "Diese Aussprache hat Züge des Surrealen", sagt sie. Und der Saal spottet, weil bis dahin ja die Aussprache nur aus Weidels Gang zum Rednerpult bestand.

Tatsächlich hat dann die erste Stunde dieser Plenarsitzung sehr viel Surreales. Die Debatte beginnt, als hätte es die Unruhe der vergangenen Tage nicht gegeben. Vielleicht weil es die Generaldebatte ist, spricht Weidel erst mal ganz generell darüber, was aus Sicht der AfD so alles falsch läuft im Land, und das ist ja bekanntlich generell alles. Weidel spricht über die hohe Staatsquote, über Energiepolitik, über das Bildungssystem und die Sozialsysteme, die dringend Geld bräuchten. "Sie verschleudern den Wohlstand unseres Landes, als gäbe es kein morgen", sagt sie.

Und Weidel spricht ohne Betonungen, ohne Pausen oder Stimmschwankungen, als gäbe es keine Adressaten für ihre Worte. Die Kanzlerin sitzt wenige Meter daneben und schaut in Akten, als wäre sie nicht gemeint. Weidel macht ihr das leicht, weil sie vorträgt, als wäre sie von gläsernen Wänden umgeben, die sie von diesem Saal voller Parlamentarier abschirmen. Selbst ihre eigenen Leute müssen erst mal Stellen finden, an denen sie mit Applaus einsetzen können.

Ein Morgen der War-da-was?-Momente

Es ist viel darüber geredet worden, dass die AfD als größte Oppositionspartei einen herausgehobenen Platz auf der politischen Bühne finden könnte. An diesem Morgen wird nicht zum ersten Mal in einer konkreten Debatte deutlich, dass sie dafür die Gelegenheit auch nutzen müsste. Wer den Auftakt einer hitzigen Debatte erwartete, wird von Weidel heruntergekühlt. Das bleibt auch so, als sie sich doch noch der Krise der Union widmet. Weidel nennt sie ein "unwürdiges Schauspiel". Deutschland sei vom Motor und Stabilitätsanker Europas zum Chaosfaktor geworden", sagt sie, nennt Seehofer den "Agonieverlängerer der Ära Merkel". Und endet mit der Aufforderung an die Kanzlerin, auf ihr Amt zu verzichten: "Machen Sie also dem Trauerspiel ein Ende und treten Sie bitte ab."

Die Antwort der Kanzlerin darauf ist, nicht mal eine Antwort anzudeuten. Sie beginnt, als wäre Frau Weidel gar nicht da gewesen, mit einer Einleitung zur Generaldebatte, in der sie erst mal erklärt, worum es geht in diesem Haushalt. Es fällt einem Weidels erster Satz von den Zügen des Surrealen ein, als die Kanzlerin in der ihr eigenen Art gar nicht über die Peinlichkeiten und das Ringen in der Union in den vergangenen Tagen, dafür aber in Sätzen spricht wie: "Wir brauchen Antworten, die unseren Werten entsprechen." Dieser Morgen ist ein Morgen der War-da-was?-Momente: War da nicht gerade eine politische Krise, die das ganze Land in Ratlosigkeit und Wut versetzte?

"Ich glaube, im Bundeskanzleramt biegen die sich vor Lachen, Herr Seehofer"

Es dauert bis zehn Uhr drei, also mehr als eine Stunde, bis davon etwas zu spüren ist in der Debatte. Da nämlich dreht sich Christian Lindner, der Fraktionschef der FDP, zur Kanzlerin und ihrem Innenminister hin und hält ihr eine Bilanz der vergangenen Tage vor. "Wir haben mal gesagt: besser nicht regieren als falsch", sagt Lindner. "Wir haben uns nicht vorstellen können, dass beides gleichzeitig geht." Er spricht von einer beispiellosen Eskalation, an deren Ende der CSU-Chef blamiert sei: "Ich glaube, im Bundeskanzleramt biegen die sich vor Lachen, Herr Seehofer", ruft er ihm zu.

Lindner macht sich einen Spaß daraus, Mitleid mit der SPD zu zeigen. Die Unionsparteien hätten mit ihrem Asyl-Kompromiss den Koalitionsvertrag gebrochen. Die SPD könne als Koalitionspartner jetzt entscheiden, ob sie die Kastanien für die Union aus dem Feuer holen wolle: "Das ist kein fairer Umgang mit der SPD." Am Ende warnt er vor einer Spaltung des Landes und schlägt der Kanzlerin vor, gemeinsam an einem großen Migrationskonzept zu arbeiten.

Ist diese Krise ein Geschenk für die Opposition? Nein, sie sei für niemanden ein Geschenk, sagt Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linken - und ist doch derjenige, der den Politiknotstand der Union für einen Generalangriff zu nutzen weiß. Was in den vergangenen Tagen passiert sei, habe der Demokratie schweren Schaden zugefügt. "Es befördert Politikverdrossenheit, wie wir uns das alle nicht vorstellen konnten." Mit scharfen Schnitten seziert Bartsch die Unions-Krise, vor allem den Zustand der CSU. Sie sei destruktiv in einer Art, "wie ich mir das bei Konservativen nicht hätte vorstellen können".

Die CSU radikalisiere sich beinahe stündlich, sagt Bartsch. Sie vergesse dabei ihre christlichen Wurzeln. Die Bibel aber kenne keinen guten und schlechten Fluchtgründe, sie kenne nur Menschen in Not: "Sie hätten doch auch mit einem Lächeln Jesus abgeschoben." Der Linken-Politiker erinnert daran, dass der Bundesinnenminister an diesem Tag Geburtstag hat und blickt schon mal auf das kommende Jahr: "Herr Seehofer, Sie sind ein Innenminister auf Abruf. Und ich sage Ihnen voraus: Am 70. Geburtstag werden Sie hier nicht mehr in dieser Funktion sitzen."

Für einige Augenblicke kommt die Debatte einem wirklich vor wie eine Generalabrechnung der Opposition. Dann kommt Anton Hofreiter, und es bleiben am Ende seiner Rede die Worte "eine Mischung aus Chaos und Koma" hängen.

Hofreiter will sie auf die Kanzlerin und Seehofer gemünzt verstehen, die der Grünen-Fraktionschef mit der Mahnung belegt: "Liebe Frau Merkel und Herr Seehofer, Regieren ist halt keine Paartherapie." Die Menschen sähen, dass diese Regierung keine Probleme mehr löse, sondern dass diese Regierung selbst das Problem sei, sagt Hofreiter. Er sieht die CSU in einem "populistischen Rausch" und warnt vor den Folgen einer Flüchtlingspolitik, sieht einen "Dammbruch der Unmenschlichkeit". Konkret nennt er die von der Union gewollten "Transitzentren", aus denen Flüchtlinge in diejenigen EU-Länder zurückgeschickt werden sollen, die für ihr Asylverfahren zuständig sind, "Inhaftierungslager". Es ist einer der Momente, in denen es unruhig wird in der Union, die - wie Fraktionschef Volker Kauder wenig später deutlich macht - so eine Wortwahl als falsch und absolut unangemessen empfindet.

Es ist ein Tag, der auch aufzeigt, wie schnell selbst mit großer Aufmerksamkeit erwartete Debatten im Bundestag angesichts von vier kleinen Oppositionsparteien eine Kakophonie der politischen Halbriesen und Zwerge erzeugen können. Die AfD trägt noch dazu bei, indem sie ihre Redezeit teilt, auch den zweiten Fraktionschef Alexander Gauland sprechen lässt. Er spendet der Union ein vergiftetes Kompliment: Sie habe mit ihrem Kompromiss einen Schritt in die richtige Richtung getan. "Liebe CDU/CSU, wir werden Ihnen auch künftig weiter unter die Arme greifen", verspricht er - und richtet dann all seine Kritik auf die Kanzlerin und ihre Versuche, internationale Lösungen zu finden anstatt, wie die AfD fordert, die Grenzen zu schließen: "Wenn Sie nächste Woche feststellen, dass es im Kanzleramt reinregnet, werden Sie vermutlich keinen Dachdecker rufen, sondern eine europäische Lösung fordern." Er wiederholt die Rücktrittsforderung seiner Kollegin Weidel, als ob man sie hätte überhören können.

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