Bundestag:Codewort Kapitänsbinde

Bundestag: Um die Kapitänsbinde von Torwart Manuel Neuer gab zuletzt viel Ärger. Jetzt spielt er während der WM ohne One Love-Binde.

Um die Kapitänsbinde von Torwart Manuel Neuer gab zuletzt viel Ärger. Jetzt spielt er während der WM ohne One Love-Binde.

(Foto: IMAGO/ULMER/Markus Ulmer/IMAGO/Ulmer/Teamfoto)

Die Haushaltswoche im Bundestag endet stets mit einem Ritual: Vor der Schlusssitzung wird ein Begriff verabredet, den jeder Redner unterbringen muss. In diesem Jahr geht es um Fußball.

Von Boris Herrmann, Berlin

Sie haben sich diesmal auf das Wort "Kapitänsbinde" geeinigt. Der CSU-Politiker Stefan Müller stellte am Freitag im Bundestag die Frage, "ob Olaf Scholz vielleicht später noch kommt und die Kapitänsbinde trägt?" (Antwort: Nein). Gesine Lötzsch von den Linken sagte: "Wenn ich eine Kapitänsbinde in dieser Regierung zu vergeben hätte, würde ich sie an Herrn Lindner vergeben." Dessen Parteifreund Otto Fricke (FDP) hatte am Frühstückstisch gelesen, dass in der Union schon wieder darüber gestritten werde, wer bei der nächsten Kanzlerkandidatur die Kapitänsbinde übernimmt. Und als Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau den Redner der Grünen an die vorgegebene Redezeit erinnerte, entgegnete Sven-Christian Kindler: "Frau Präsidentin, ich weiß, Sie haben die Kapitänsbinde hier im Haus, ich komme zum Schluss."

Zur Schlussrunde der Haushaltswoche, bevor im Plenum darüber abgestimmt wird, wie viel die Bundesregierung im kommenden Jahr ausgeben darf, treten traditionell noch einmal die Haushaltspolitiker ans Mikrofon. Es geht diesmal um 476 Milliarden Euro - und vielleicht ist die Last dieser Summe nur mit einer kleinen ironischen Note zu ertragen. Die Haushälter aller Fraktionen jedenfalls pflegen in dieser Schlussrunde ein erstaunliches Ritual, seit vielen Jahren schon: Vor der Sitzung verabreden sie ein Codewort, das jeder Abgeordnete in seiner Rede unterbringen muss. In diesem Jahr also die Kapitänsbinde.

Den aktuellen Anlass für diese Wahl lieferte natürlich der ehemalige Lieblingssport der Deutschen, der derzeit in Katar zu Grabe getragen wird. In der Vergangenheit haben es aber auch schon subtilere Begriffe zum Codewort gebracht, etwa das "Reeperbahn-Festival", die "Glatze" oder der "Herdenschutzesel".

Virtuos streuen die erfahrenen Haushaltspolitiker den Begriff ein

Umso virtuoser sind die Kunstgriffe, mit denen erfahrene Haushälter solche Wörter in ihre Reden einbauen. Der CDU-Politiker André Berghegger sagte 2020, im Jahr des Esels: "So wie der Herdenschutzesel die Schafe vor den Wölfen beschützen soll, so schützt die schwarze Null den Haushalt vor weiteren Schulden." Damals regierte die Union noch mit der SPD und der passionierte Haushälter Otto Fricke fragte: "Welchen Herdenschutzesel brauchen wir denn ab dem 26. September des kommenden Jahres, nach der Bundestagswahl?" Die Linken-Abgeordnete Lötzsch schien das Wahlergebnis zumindest schon zu ahnen, als sie sagte: "Nun gibt ja der Finanzminister Scholz hier den Herdenschutzesel. Doch die Wählerinnen und Wähler sind keine Schafe."

Diesmal nahmen 15 Rednerinnen und Redner die Binde in den Mund, darunter auch ein Abgeordneter der AfD. Solcherlei fraktionsübergreifende Spielchen sind im deutschen Parlamentarismus ganz und gar unüblich. Aber die Haushälter sind auch keine üblichen Abgeordneten, eher eine verschworene Gemeinschaft. Ihre Hoheit über den Regierungsetat, das sogenannte Königsrecht des Parlaments, wirkt offenbar über Parteigrenzen hinweg identitätsstiftend.

Zum informellen Regelwerk des Codewort-Spiels gehört der exklusive Kreis der Eingeweihten. Am Anfang der Debatte kennen nur die Haushaltsexperten den Begriff. Im Rest des Plenums sickert meist erst nach und nach durch, weshalb plötzlich alle "Kapitänsbinde", "Herdenschutzesel" oder "Glühwein" sagen.

Blödelei? Nein, es geht um den Dienst an der Demokratie

Das Codewort Glühwein nutzte Hans Michelbach (CSU) vor einigen Jahren, um für den heimischen Frankenwein zu werben, "er ist etwas zu schade, um daraus Glühwein zu machen". Im Protokoll ist an dieser Stelle "Heiterkeit" vermerkt. Nach insgesamt 16 Glühwein-Nennungen aus allen Fraktionen wurde es Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn etwas zu heiter: "Langsam sehe ich mich zur Klarstellung genötigt: Im Deutschen Bundestag wird nicht ständig Glühwein getrunken."

Es geht hier aber nicht nur um eine Blödelei, sondern auch um einen Dienst an der Demokratie. Otto Fricke sagt, das Codewort belege, "dass es bei allem Streit unter den Parteien auch ein verbindendes Element gibt".

Spannend ist immer die Frage, ob sich der jeweilige Finanzminister beteiligt. Wolfgang Schäuble machte meistens mit, Olaf Scholz gelegentlich, Peer Steinbrück soll in den Nullerjahren sogar wesentlich zur Entwicklung des Spiels beigetragen haben, als er die Haushaltspolitiker einmal mit Frettchen verglich. So ward das Codewort Frettchen geboren.

Finanzminister Christian Linder sagte am Freitag, die Haushälter hätten "gewissermaßen die Kapitänsbinde angezogen", um dem Land mit diesem Haushalt Orientierung zu geben. Na ja. Mit wie viel Eleganz man so ein Codewort auch einstreuen kann, bewies Hans-Ulrich Krüger (SPD) im Jahr 2014. Er hielt eine handelsübliche Haushaltsrede und sagte ganz zum Schluss: "Sie sehen, ich habe das Wort Glatze vermieden."

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