70 Jahre Grundgesetz:"Eine Absage an jede menschliche Allmacht"

Bundestag

Ralph Brinkhaus (CDU) im Deutschen Bundestags

(Foto: Fabian Sommer/dpa)
  • Bei der Bundestagsdebatte zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes würdigen die Redner quer durch die Parteien die große Bedeutung des Verfassungswerks.
  • Der AfD-Abgeordnete Brandner schert allerdings aus und spricht von einer "Beerdigungsveranstaltung".
  • AfD-Chef Gauland will an diesem Tag hingegen nicht provozieren.

Von Stefan Braun, Berlin

Als ob es nicht mal in den nachdenklichsten Momenten ohne Beleidigung und Provokation ginge. Da diskutiert das Parlament schon gut anderthalb Stunden über das Grundgesetz und seine Bedeutung, als der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner ans Pult tritt. Brandner hat schon viele Provokationen von sich gegeben; vielleicht also kann er gar nicht anders, als im Bundestag aggressiv nach Gegnern zu suchen.

Und so lobt Brandner nicht, sondern spricht in einer Debatte zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes von einer "Beerdigungsveranstaltung". Als ob diese Verfassung tot sei. Und weil er schon mal dabei ist, attackiert Brandner anschließend den Bundespräsidenten, der sich zur Würdigung des Grundgesetzes an diesem Tag auf die Tribüne des Parlaments gesetzt hat. Und zwar so harsch, dass Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eingreift und ihn auffordert, das zu beenden. Brandner attackiert, Schäuble muss einschreiten - alles wie immer also?

Nicht ganz. Denn an diesem 16. Mai, an dem die Abgeordneten an den 70. Geburtstag des eigenen Grundgesetzes erinnern, könnte Brandners Verhalten selbst AfD-Parteichef Alexander Gauland übel aufstoßen. Anders als der Provokateur Brandner nämlich spricht auch Gauland von einer großen Errungenschaft. Ja, Gauland nennt das Grundgesetz "einen der größten Erfolge der deutschen Geschichte". Wenn manche Historiker heute behaupteten, man könne aus der Geschichte nichts lernen, dann sei das Grundgesetz für ihn "der Beweis des Gegenteils".

Nun wäre der AfD-Chef nicht AfD-Chef, wenn er einfach alles nur gut fände. Und deshalb erinnert er daran, dass auch diese Verfassung immer wieder neu gelebt werden müsse; Buchstaben alleine würden am Ende nicht viel bedeuten. Und um das konkret zu machen, verweist Gauland auf den umfassenden Anspruch der Meinungsfreiheit. Diese müsse für alle in diesem Land gelten und verteidigt werden, also für einen Kevin Kühnert mit seinen "Enteignungsphantasien" genauso wie für die AfD, die eine "demokratische Identitätspolitik" verfolge.

Gauland will an diesem Tag nicht provozieren, höchstens rechtfertigen, dass man auch anders denken dürfe. Und zum Schluss erklärt er - an alle gerichtet, also auch an seinen Kollegen Brandner -, dass man "eine neue, gar bessere Verfassung" nicht mehr bekommen werde.

"Klare Absage an destruktive Parlamentsarbeit"

Nun ist das noch lange keine umfassende Versöhnungsgeste. Aber Gauland will den Ton wahren, während er an das Grundgesetz erinnert. Und das eint ihn mindestens zu diesem Anlass mit den allermeisten, die davor und danach zum glorreichen Anlass ans Pult treten. Vorneweg gilt das für Ralph Brinkhaus, den Unionsfraktionschef. Normalerweise spricht der CDU-Politiker frei und meistens auch frank aus, was er denkt. An diesem Tag aber entscheidet er sich fürs Ablesen, vielleicht um auch den letzten Misston zu vermeiden.

Brinkhaus erinnert an den "moralischen Offenbarungseid" Deutschlands, der dem Grundgesetz vorausging - und es deshalb umfassend geprägt hätte. Danach habe es nur eine Gewissheit gegeben: "dass nichts mehr selbstverständlich ist, nicht die Freiheit, nicht die Demokratie". Umso wichtiger sei es deshalb, dass das Grundgesetz "eine Absage an jede menschliche Allmacht" geworden sei. Für ihn, Brinkhaus, sei dafür auch der Gottesbezug ein wichtiger, wenn nicht entscheidender Beleg. Dieser sei ein Ausdruck der Demut. "Gerade dieses Vertrauen, dass nicht alle Dinge in unserer Hand liegen, hilft durch schwierige Zeiten", betont Brinkhaus.

Hinzu kommt bei ihm, dass er einiges sehr konkret macht, zum Beispiel das im Grundgesetz festgeschriebene "konstruktive Misstrauensvotum". Dieses sei nicht nur per se gut, es sei auch - und das ist ihm am wichtigsten - eine "klare Absage an eine destruktive Parlamentsarbeit". Für Brinkhaus ist das nicht nur eine Lehre aus der Geschichte, sondern auch eine Botschaft ans Hier und Heute. Die AfD muss er dafür gar nicht beim Namen nennen.

Die Klarheit der Sprache des Grundgesetzes

Im Übrigen will Brinkhaus keiner sein, der quasi wie ein Vollzugsbeamter die Gesetze der Regierung durchs Parlament bringt. Das einzige direkt gewählte Verfassungsorgan sei der Bundestag, so der Vorsitzende der größten Koalitionsfraktion, und deshalb seien "Gesetzentwürfe der Regierung auch nicht in Stein gemeißelt". Vielleicht täuscht der Eindruck, aber an der Stelle ist der Beifall besonders laut - und fraktionsübergreifend.

Diese Wirkung erzielt an diesem Tag hie und da auch Andrea Nahles, die Partei- und Fraktionschefin der Sozialdemokraten. Sie schwärmt von der Klarheit und Schönheit der Sprache des Grundgesetzes - und erinnert daran, dass "die Mütter und Väter" desselben vor allem ein Ziel verfolgt hätten: dass die Menschen im Land verstehen, was da gemeint ist.

Nicht mehr ganz so viel Unterstützung in allen Reihen erhält die SPD-Chefin, als sie daran erinnert, dass manche Artikel zwar früh als Grundsatz beschrieben wurden, aber teilweise erst sehr viel später Wirklichkeit geworden seien. So zum Beispiel Artikel 3, Absatz 2. Männer und Frauen sind gleichberechtigt - dafür kämpfe man in bestimmten Bereichen noch heute, zum Beispiel bei den Gehältern.

Außerdem erinnert die Sozialdemokratin daran, dass mancher wunderbare Artikel der Verfassung in der Umsetzung eng an die sozialen Bedingungen gekoppelt sei. "Es geht immer auch um materielle Voraussetzungen, wenn wir die Maßgaben des Grundgesetzes umsetzen wollen", so Nahles. Kein Wunder ist es an dieser Stelle, dass sie auf die Sozialbindung von Eigentum verweist - und ihr Nachredner nur wenige Minuten später an das Gegenteil erinnert.

Christian Lindner, der FDP-Chef, stellt die im Grundgesetz verankerte Freiheit zur Entfaltung in den Mittelpunkt - und den Enteignungsideen des Juso-Chefs Kevin Kühnert seine Interpretation der Verfassung entgegen. So sehr Kühnert sein Gedanke gefallen möge, so Lindner, so deutlich habe das Grundgesetz den absoluten Schutz des Eigentums dem allen vorangestellt, also im Grunde genommen das Gegenteil vorgegeben. Nun ist es nichts Neues, wenn Gesetze sehr unterschiedlich interpretiert werden. An der Stelle aber erweckt Lindner den Eindruck, als wolle er einfach nur unbedingt recht haben.

Linkes Lob ohne Überraschung

Gleichwohl bleibt er ansonsten in der Reihe derer, die das Grundgesetz als Basis für alles Demokratische und Erfolgreiche in diesem Land hervorheben. Und er tut das unter dem Raunen der Kollegen gar mit einer Portion Selbstkritik, auch wenn sich die nicht auf ihn selbst bezieht. Thomas Dehler sei es gewesen, der anlässlich der Verabschiedung des Grundgesetzes vom Übergangscharakter des Grundgesetzes geredet habe. Das, so Lindners Botschaft, sei dann doch voreilig und eine Fehleinschätzung gewesen.

Dass Dietmar Bartsch von der Linkspartei anschließend noch einmal die soziale Verpflichtung hervorhebt, die sich aus dem Grundgesetz ergebe, überrascht an diesem Morgen niemanden. Eine Überraschung wäre dem Fraktionschef der Linken nur gelungen, wenn er einmal daran erinnert hätte, mit welcher Häme die DDR-Führung einst über das Grundgesetz gesprochen hätte. Man stelle sich nur kurz vor, Bartsch hätte davon erzählt, um dann die Brücke zum Wert des Grundgesetzes zu schlagen - das wäre tatsächlich etwas Besonderes gewesen und hätte ihm besonderen Respekt einbringen können. Um es kurz zu machen: Das ist ausgeblieben.

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