Süddeutsche Zeitung

Bundestag gedenkt der Opfer des Holocaust:Reich-Ranicki lässt das Parlament verstummen

Er ist Literaturpapst und gefürchteter Kritiker. Aber auch Zeitzeuge, der als junger Mann den Holocaust der Nazis überlebte. Im Bundestag spricht Marcel Reich-Ranicki zum Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz - gegen das Vergessen.

Thorsten Denkler, Berlin

Am Ende ist Schweigen. Langes Schweigen. Marcel Reich-Ranicki hat gerade seine Rede im Bundestag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus beendet. Jedes Jahr wird so eine Rede gehalten. Immer am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945.

Im engeren Sinne hat Reich-Ranicki keine Rede vorgetragen. Eher einen Bericht. Den Bericht eines Zeitzeugen, eines Mannes, der das Warschauer Ghetto mit viel Glück überlebt hat. Eines Mannes, der von sich sagen muss, er habe das Urteil der SS über die "größte jüdische Stadt Europas" protokolliert. Das "Todesurteil", wie er es nennt.

Marcel Reich-Ranicki, der donnernde Literaturpapst, der messerscharfe Kritiker, der leidenschaftliche Kämpfer für die deutsche Sprache. Gefürchtet seine Verrisse zunächst in der Zeit, später in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Legendär seine Wortgefechte mit Hellmuth Karasek im Literarischen Quartett des ZDF. Dieser Mann ist eine Instanz. Dieser Mann hat seine Eltern in den Gaskammern von Treblinka verloren.

Am Arm von Norbert Lammert betritt Reich-Ranicki den Plenarsaal des Bundestages. 91 Jahre ist er alt. Es wäre gelogen, zu sagen, es wäre ihm nicht anzusehen. Nach der Einführung von Lammert stützen ihn Bundespräsident Christian Wulff und Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle auf dem Weg zum Rednerpult. Reich-Ranicki wird im Sitzen sprechen.

Klein wirkt er da vorne. Dann hebt er den Blick und schaut in das Rund. Von rechts nach links. Von links nach rechts. Er nimmt sich Zeit, als wolle er den Augenblick festhalten, ihm Zeit geben, sich in sein Gedächtnis zu prägen.

Er kann beginnen.

Was zunächst erschrecken lässt: Seine Stimme hat jede Kraft verloren. Manche Worte verschluckt er. Er murmelt, er krächzt, manchmal so leise, dass ganze Passagen nicht zu verstehen sind.

Und doch: Seine Stimme ist durchdringend. Und wenn es besonders wichtig wird, dann findet sie plötzlich zu alter Kraft zurück.

Reich-Ranicki beschreibt einen Tag im Juli 1942 im Warschauer Ghetto. Es ist der 22. Juli. Der Tag, an dem die SS die "Umsiedlung" der allermeisten jüdischen Bewohner des Ghettos beschließt. Reich-Ranicki war damals als Übersetzer für den sogenannten "Judenrat" tätig, einer perfiden Art der Selbstverwaltung. Der Judenrat war es, der die Befehle der SS zu exekutieren hatte.

An diesem 22. Juli 1942 fuhren SS-Trupps vor dem Judenrat auf, besetzten das Gebäude. Reich-Ranicki wurde zu Adam Czerniaków zitiert, dem Obmann des Judenrates. Reich-Ranicki fürchtete, von den SS-Schergen als Geisel verhaftet zu werden. Es kam anders. SS-Sturmbannführer Hermann Höfle wollte wissen, "ob ich stenografieren könne. Da ich verneinte, fragte er mich, ob ich imstande sei, schnell genug zu schreiben, um die Sitzung, die gleich stattfinden werde, zu protokollieren. Ich bejahte knapp". Damit wurde Reich-Ranicki zum Protokollanten einer Sitzung der SS, die das Ende der Juden in Warschau besiegeln sollte.

Von unten schallten Gesänge herauf, Gesänge von der schönen blauen Donau. Reich-Ranicki aber protokollierte, dass "alle jüdischen Personen, die in Warschau wohnten, gleichgültig welchen Geschlechtes, nach Osten umgesiedelt wurden". Unten wurde ein Walzer angestimmt: "Wein, Weib und Gesang". Reich-Ranicki: "Ich dachte, das Leben geht weiter. Das Leben der Nicht-Juden."

Das "Todesurteil" diktierte er kurz danach einer Mitarbeiterin, die es ins Polnische übersetzte. In dem Diktat hieß es auch, dass von der "Umsiedlung" jene Juden ausgenommen seien, die für den Judenrat arbeiteten - sowie deren Eheleute und Kinder. Die Mitarbeiterin riet ihm, seine liebe Freundin Teofila "noch heute" zu heiraten. Er hatte sie erst im Warschauer Ghetto kennengelernt. Reich-Ranicki handelte sofort. Teofila verstarb im vergangenen Jahr. Nach 69 Ehejahren.

Der 22. Juli 1942 war der Beginn einer Deportation, bei der Tag für Tag 7000 Menschen in die Konzentrationslager Auschwitz und Treblinka geschickt wurden. Keine willkürlichen Ziffern, wie Reich-Ranicki berichtet, sondern "allem Anschein nach von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Viehwaggons" bestimmt.

Von Obmann Adam Czerniaków verlangte die SS noch am 22. Juli, jeden Tag die geforderte Zahl von Personen zum "Umschlagplatz" zu bringen. Wenig später wurde seine Leiche in seinem Amtszimmer gefunden. Czerniaków hatte sich mit einer Kapsel Zyankali umgebracht. In einem Abschiedsbrief schrieb er: "Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben."

Bis Mitte September sollten die Deportationen dauern. Die Aussiedlung der Juden aus Warschau, sie "hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod", sagt Reich-Ranicki und beendet seine Rede im Bundestag.

Danach herrscht Schweigen im Parlament. Was auch sonst.

Linktipp: Auf der Website des Bundestages gibt es die Rede von Marcel Reich-Ranicki im Wortlaut und als Video.

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