Süddeutsche Zeitung

Bundestag: Erste Sitzung:Fall Thierse - die erste Kriegserklärung

Sauereien, Verbalinjurien und vier Jahre Krieg: Bei der ersten Sitzung des Bundestages sorgt das miese Ergebnis für den SPD-Kandidaten Thierse für Aufruhr.

Nico Fried

Volker Kauder kann von Glück sagen, dass er nicht gleich in der konstituierenden Sitzung des 17. Deutschen Bundestages eine Tracht Prügel kassiert. Denn um kurz nach 15 Uhr, als die stellvertretenden Präsidenten des Deutschen Bundestages gewählt sind, reagieren viele sozialdemokratische Abgeordnete erbost auf das schlechte Ergebnis ihres Kandidaten Wolfgang Thierse, das schlechteste aller Stellvertreter. Obgleich es eine geheime Wahl gewesen ist, liegt es nahe, dass viele Unions-Abgeordnete Thierse nicht gewählt haben. Das Verhältnis ist seit Jahren gespannt.

Fraktionschef Kauder gratuliert Thierse, macht eine entschuldigende Geste und entkommt dann gerade noch dem SPD-Parlamentarier Sascha Raabe, der ihm heftig gestikulierend einige Verbalinjurien zuteilwerden lässt, die Raabe später in der Lobby bereitwillig wiederholt: Es sei eine Sauerei, dass mit Hilfe der Union ein verdienter Politiker wie Thierse sogar weniger Stimmen erhalten habe als Petra Pau von der Linken. "Die Union macht jetzt einen auf dicke Hose. Aber wenn das so weiter geht, bedeutet das vier Jahre Krieg."

Tatsächlich erscheint das mutmaßliche Verhalten vieler Abgeordneter von CDU und CSU eher schäbig, nachdem ihr Kandidat, Bundestagspräsident Norbert Lammert, mit 522 Stimmen zwar weniger bekommen hat als 2005, aber offensichtlich auch von vielen Sozialdemokraten gewählt wurde. Aber bei Raabe und manchem SPD-Kollegen entlädt sich vielleicht auch der Frust über das eigene kümmerliche Dasein: Klein ist sie geworden, die SPD-Fraktion. Dagegen haben am anderen Ende des Saales die Freidemokraten erhebliche Raumgewinne zu verzeichnen, zudem viele junge Abgeordnete, wovon in der SPD keine Rede sein kann. Einer der stolzen Liberalen sagt später: "Man hat gesehen, dass es jetzt mit der Union noch eine große Fraktion gibt, mit FDP und SPD zwei mittlere und mit Grünen und Linken zwei kleine." Und so ganz Unrecht hat er damit nicht.

Man hat aber auch gesehen, was man eigentlich nicht mehr sehen will. Passend zur neuen schwarz-gelben Koalition fügt es der Zufall, dass mit dem 73-jährigen Heinz Riesenhuber ein ehemaliges Mitglied der alten schwarz-gelben Regierung von Helmut Kohl den Alterspräsidenten stellt. Riesenhuber war damals Forschungsminister, aber bekannt geworden ist er allenfalls durch seine Fliegen. Seine Rede beginnt noch ganz amüsant, mit zunehmender Dauer allerdings extemporiert Riesenhuber, ersichtlich angespornt von einzelnen Lachern, und macht seinen mutmaßlich letzten zu einem eher peinlichen Auftritt, von dem vor allem seine Reminiszenz an die toten Fische in Erinnerung bleiben wird, die vor 30 Jahren mit weißen Bäuchen nach oben im Main vorbeischwammen.

Billige Schelte der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender

Nach seiner Wahl übernimmt dann wieder Norbert Lammert den Vorsitz im Hohen Haus und fügt einer eher billigen Schelte der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender einige durchaus bedenkenswerte Anregungen über das Selbstverständnis des Parlaments hinzu. Lammert kritisiert indirekt das Bundesverfassungsgericht wegen seines Urteils zum EU-Gesetz, lässt aber gleichwohl durchblicken, dass es nicht so weit hätte kommen müssen, wenn das Parlament zuvor seine Aufgabe gründlicher erledigt hätte.

Lammert kritisiert in deutlichen Worten die bisweilen unzureichenden und ärgerlichen Antworten der Regierung auf die Fragen des Parlaments. Allerdings bemängelt er auch überbordenden Ehrgeiz der Abgeordneten: "Nicht jede Frage ist wichtig." Die Möglichkeit, Reden im Bundestag nicht mehr zu halten, sondern nur noch zu Protokoll zu geben, wird nach Lammerts Ansicht mittlerweile unverhältnismäßig oft genutzt. Von rund 15.500 Reden seien in der letzten Legislaturperiode 4429 gar nicht gehalten worden, mehr als jede vierte.

Da wegen des Karlsruher Urteils zu den Überhangmandaten ohnehin das Wahlrecht überarbeitet werden müsse, mahnt Lammert Korrekturen auch beim Zulassungsverfahren für die Parteien an und plädiert für eine Diskussion über die Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre. Schließlich bekommt noch Karl-Theodor zu Guttenberg sein Fett weg, als Lammert mahnt, der Eindruck, nicht das Parlament, sondern Anwaltskanzleien machten die Gesetze, stärke die Autorität des Bundestages nicht. Guttenberg nickt und die SPD klatscht. Sie muss sich jetzt eben mit kleinen Freuden begnügen.

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SZ vom 28.10.2009/segi
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