Bundestag:"Eine Absage an jede menschliche Allmacht"

Zum 70-jährigen Bestehen des Grundgesetzes hört man in der Debatte nachdenkliche Töne - trotz eines AfD-Abgeordneten.

Von Stefan Braun, Berlin

Bundestag: Bundeskanzlerin Angela Merkel lauscht der Debatte zu 70 Jahren Grundgesetz. Sie selbst sprach am Donnerstag nicht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel lauscht der Debatte zu 70 Jahren Grundgesetz. Sie selbst sprach am Donnerstag nicht.

(Foto: Odd Andersen/AFP)

Als ob es selbst in nachdenklichen Momenten nicht ohne Attacke ginge. Da diskutiert der Bundestag schon anderthalb Stunden über das Grundgesetz und seine Bedeutung, als der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner mal wieder Rabatz macht. Brandner hat schon viele Provokationen von sich gegeben; offenkundig soll sich das auch in der Debatte zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes nicht ändern.

Also spricht Brandner von einer "Beerdigungsveranstaltung", als ob die Verfassung tot sei. Und weil er schon dabei ist, attackiert er anschließend Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der sich zur Würdigung der Debatte auf die Tribüne des Parlaments gesetzt hat. So harsch geht Brandner das Staatsoberhaupt an, dass Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eingreift. Brandner attackiert, Schäuble muss einschreiten - alles wie immer also?

Nicht ganz. Denn an diesem 16. Mai könnte Brandners Verhalten selbst dem AfD-Parteichef Alexander Gauland übel aufstoßen. Anders als der Provokateur spricht Gauland von einer großen Errungenschaft. Ja, Gauland nennt das Grundgesetz "einen der größten Erfolge der deutschen Geschichte". Wenn manche Historiker behaupteten, man könne aus der Geschichte nichts lernen, dann sei das Grundgesetz für ihn "der Beweis des Gegenteils".

Nun wäre der AfD-Chef nicht AfD-Chef, wenn er alles gut fände. Deshalb erinnert er daran, dass eine Verfassung immer wieder neu gelebt werden müsse. So müsse etwa die Meinungsfreiheit für alle gelten und verteidigt werden, also für einen wie Juso-Chef Kevin Kühnert mit seinen "Enteignungsfantasien" genauso wie für die AfD, die eine "demokratische Identitätspolitik" verfolge.

Gauland will nicht versöhnen, aber er möchte an diesem Tag den Ton wahren. Und das eint ihn mit den meisten, die davor und danach ans Pult treten. Vorneweg gilt das für Ralph Brinkhaus, den Unionsfraktionschef. Normalerweise spricht der CDU-Politiker frei und meistens auch frank aus, was er denkt. An diesem Tag aber entscheidet er sich fürs Ablesen. Brinkhaus erinnert an den "moralischen Offenbarungseid" Deutschlands, der dem Grundgesetz vorausging. Danach habe es nur eine Gewissheit gegeben: "dass nichts, aber auch gar nichts mehr selbstverständlich war - nicht der Respekt vor dem Leben, erst recht nicht die Demokratie". Umso wichtiger sei deshalb, dass das Grundgesetz zu einer "Absage an jede menschliche Allmacht" geworden sei. Für ihn, so Brinkhaus, sei dafür auch der Gottesbezug ein wichtiger Beleg und Ausdruck der Demut. "Gerade dieses Vertrauen, dass nicht alle Dinge in unserer Hand liegen, hilft durch schwierige Zeiten", betont Brinkhaus.

Der CDU-Politiker will im Übrigen keiner sein, der die Gesetze der Regierung quasi wie ein Vollzugsbeamter durchs Parlament bringt. Das einzige direkt gewählte Verfassungsorgan sei der Bundestag, so der Vorsitzende der größten Koalitionsfraktion, und deshalb seien "Gesetzentwürfe der Regierung auch nicht in Stein gemeißelt". Vielleicht täuscht der Eindruck, aber an der Stelle ist der Beifall besonders laut - und fraktionsübergreifend.

Diese Wirkung erzielt an diesem Tag hie und da auch Andrea Nahles, die Partei- und Fraktionschefin der Sozialdemokraten. Sie schwärmt von der Klarheit und Schönheit der Sprache des Grundgesetzes - und erinnert daran, dass "die Mütter und Väter" desselben vor allem ein Ziel verfolgt hätten: dass die Menschen im Land verstehen, was da gemeint ist.

Auch verweist Nahles auf die Tatsache, dass manche Grundgesetzartikel wenig bedeuten, wenn ihnen die Bedingungen zur Umsetzung fehlen. "Es geht immer auch um materielle Voraussetzungen, wenn wir die Maßgaben des Grundgesetzes umsetzen wollen", so Nahles. Kein Wunder, dass sie an der Stelle an die Sozialbindung von Eigentum erinnert - und FDP-Chef Christian Lindner anschließend darauf verweist, dass der Schutz des Eigentums alldem vorangestellt sei. Spätestens ab da näherten sich alle den sonst üblichen Debatten. Nur der nachdenklichere Ton, der blieb noch eine Weile erhalten.

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