Süddeutsche Zeitung

Bundestag:Die AfD ist eine Chance für das Parlament

Zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung zieht eine Partei rechts der Union in den Bundestag ein. Das Parlament kann dadurch wieder zum Ort der politischen Auseinandersetzung werden.

Kommentar von Nico Fried, Berlin

Jeder neue Bundestag ist anders, aber der 19. Bundestag, der sich am Dienstag konstituiert, ist doch sehr anders. 709 Abgeordnete sitzen in diesem Parlament, so viele wie noch nie. Mit der AfD zieht erstmals seit der Wiedervereinigung eine Partei ein, die irgendwo zwischen rechtspopulistisch und rechtsextrem zu verorten ist, ganz gewiss aber rechts von der Union. Und zum ersten Mal glaubt ein großer Teil der Abgeordneten, den neu zu wählenden Parlamentspräsidenten mit einer Art politischem Kampfauftrag versehen zu müssen: Wolfgang Schäuble soll mit Erfahrung und Autorität die AfD bändigen.

Es hat in der Bundesrepublik Deutschland zwei Parlamente gegeben, die für die Geschichte dieses Staates aufgrund ihrer bloßen Existenz offensichtlich die größte Bedeutung hatten: Das waren der erste Bundestag von 1949 und der elfte Bundestag, das erste gesamtdeutsche Parlament von 1990. Politisch besonders bemerkenswert waren auch der 1957 gewählte Bundestag, in dem zum bisher einzigen Mal eine Fraktion die absolute Mehrheit hatte, ohne dass die Diktatur zurückgekehrt wäre, und das Parlament von 1983, in dem die Grünen mit Sonnenblumen debütierten, ohne dass das Plenum zum Gewächshaus wurde.

Den ersten Bundestagen gelang die Absorption politischer Randgruppen

Mindestens in diese Kategorie der politischen Bedeutung fällt auch der neue, 19. Bundestag, vor allem dann, wenn die Präsenz der AfD nicht Episode bleiben, sondern eine neue Rechte zum festen politischen Faktor werden sollte. Ob das geschieht, hängt bestimmt nicht allein vom Bundestagspräsidenten ab, sondern auch von allen anderen der 614 Abgeordneten, die nicht der AfD angehören oder bis vor Kurzem angehörten. Es ist sogar eher zu erwarten, dass es der Zähmung durch Schäuble zunächst selten bedarf. Jene, die in der AfD-Fraktion das Sagen haben, werden betont bürgerlich auftreten - um so die Pauschalisierung als Nazis zu entwerten, mit der manche Kritiker ihnen gewiss in guter Absicht, aber einstweilen auch erfolglos begegnen.

Den ersten Parlamenten der Bundesrepublik gelang die Absorption politischer Randgruppen, in zwei Fällen half das Bundesverfassungsgericht mit einem Parteiverbot. Die geistig-politischen Rudimente des Nazi-Staates konnten sich nach den 50er-Jahren bis auf individuelle Ausnahmen im Bundestag nicht halten. Das Zusammenspiel von politischer Integration, besonders durch die Volksparteien, sowie der Fünf-Prozent-Hürde reduzierte die Zahl der Fraktionen zwischenzeitlich auf drei. Ähnliches geschah nach der deutschen Einheit weitgehend mit der alten Staatspartei SED. Zugleich waren sowohl die Grünen wie auch in ihren moderneren Teilen die heutige Linke Ergebnisse einer gesellschaftlichen Pluralisierung, die noch dazu stets zulasten der SPD ging.

Die AfD hingegen ist zum einen die erste Partei, die vor allem der Union schadet, auch wenn es lange ein Irrtum insbesondere der SPD war, ausschließlich enttäuschte Konservative als Sympathisanten zu vermuten. Zum anderen hat noch nie eine neue Partei die Antworten für eine schwierige Zukunft so eindeutig in der Behaglichkeit der Vergangenheit gesucht, zu der auch die Wiederabschottung eines über Jahrzehnte weltoffen gewordenen Deutschlands gehört. Vor allem aber sitzt mit der AfD erstmals eine Partei im Bundestag, von der man befürchten muss, dass sie sich eines Ungeistes der Vergangenheit bedient, wenn auch in neuer, zeitgenössischer, verbrämter Form - ausgerechnet in dem Parlament, zu dessen größten Leistungen die Überwindung dieses Ungeistes gehört.

Eine debattierende AfD mmer noch besser als eine Pegida-Bewegung

Trotzdem steckt im Einzug der AfD in das Parlament auch eine Chance für die Politik insgesamt. Der 19. Bundestag repräsentiert in seiner Vielfalt die Ansichten der Bevölkerung mehr als der 18., in dem nicht nur die AfD nicht vertreten war, sondern auch die FDP. Die absehbaren Mehrheitsverhältnisse zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen lassen lebendigere Debatten erwarten, als in der erdrückenden Langeweile der vergangenen vier Jahre. Die Institution Bundestag hat damit die Chance, mehr als zuletzt zum Ort der eigentlichen politischen Auseinandersetzung zu werden. Durch überfällige Reformen ihrer Arbeitsweise könnte die Institution selbst dazu einen zusätzlichen Beitrag leisten.

Eine AfD im Parlament, die sich der Debatte stellen muss, ist zudem immer noch besser als eine Pegida-Bewegung, die sich leicht entziehen kann. AfD-Abgeordnete können im Plenum nicht ins Mikrofon maulen: "Mit euch rede ich nicht." Umgekehrt ist es ehrenhaft, wenn sich SPD und Linke als Bollwerk gegen Rechte verstehen. Aber die Hauptverantwortung liegt bei der künftigen Regierung: Sie kann, anders als die Opposition, nicht nur reden, sondern auch handeln.

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Quelle:
SZ vom 24.10.2017
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