Süddeutsche Zeitung

70 Jahre Bundestag:Flegeleien und Gesetze

Am 7. September vor 70 Jahren konstituiert sich der Deutsche Bundestag. Die ersten Jahre der zweiten deutschen Parlamentsdemokratie waren rüpelhaft - aber auch unerreicht produktiv.

Von Thomas Balbierer

Die Geschichte der zweiten deutschen Parlamentsdemokratie beginnt vor 70 Jahren mit einer Brüskierung. Am Vormittag des 7. September 1949 treffen sich die Ministerpräsidenten der jungen Bundesrepublik in Bonn, um dem Bundesrat feierlich Leben einzuhauchen. Die Politiker sind festlich gekleidet, ein Kölner Orchester spielt eine Ouvertüre von Bach. Mit der Harmonie ist es jedoch vorbei, als die Landeschefs den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold zum Bundesratspräsidenten ernennen. Bayern enthält sich als einziges Bundesland seiner Stimme. Ministerpräsident Hans Ehard fühlt sich übergangen. In einer Erklärung, die die Süddeutsche Zeitung am Tag darauf abdruckt, beklagt er die "Konzentration von Einfluß und Macht" zugunsten Nordrhein-Westfalens. Arnold wirft er einen "diktatorisch erhobenen Anspruch" auf das Amt vor. Ehard hätte sich gerne selbst an der Spitze des Bundesrates gesehen.

Der Vorfall belastet die neue Fraktionsgemeinschaft aus CDU und CSU. Konrad Adenauer, der die bayerischen Stimmen braucht, um sich wenige Tage später zum Kanzler wählen zu lassen, gesteht den Bayern in seiner Regierung drei wichtige Ministerien zu. Für die CSU gerät die politische Niederlage zum taktischen Triumph.

Harmonisch geht es im Bundestag nicht zu, der sich am Nachmittag des 7. September 1949 konstituiert. Bereits im Wahlkampf hat der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher seinen Kontrahenten Adenauer "Lügenauer" genannt; der wiederum hat den Sozialdemokraten vorgeworfen, antichristlich zu sein. Im neuen Bundestag setzen sich die Feindseligkeiten fort. Ende November wird Schumacher als erster Abgeordneter überhaupt für 20 Tage aus dem Bundestag ausgeschlossen.

Er hatte Adenauer als "Bundeskanzler der Alliierten" bezeichnet. Explosiv ist auch die Zusammensetzung des neuen Parlaments. Neben Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten sitzen auch Kommunisten und frühere NSDAP-Mitglieder im Bonner Bundeshaus. Am 10. März 1950 kommt es zwischen dem früheren DP-Abgeordneten Wolfgang Hedler und mehreren Sozialdemokraten zu einer Prügelei. Hedler hat 1949 in einer Rede gesagt: "Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es auch andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen." Er wird daraufhin aus der Deutschen Partei - immerhin Teil der Adenauer-Regierung - ausgeschlossen, seine Immunität aufgehoben. Als er ein Jahr später trotzdem an einer Bundestagssitzung teilnehmen will, schreiten die SPD-Männer, unter ihnen Altkommunist Herbert Wehner, handgreiflich ein, wobei Hedler durch eine Glastür fällt, eine Treppe hinabstürzt und sich eine Platzwunde über dem rechten Auge zuzieht.

"Die ersten Jahre der neuen Demokratie sind sehr rüpelhaft gewesen", sagt der Potsdamer Historiker Dominik Geppert, er ist Vorsitzender der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus. Es habe ein rauer Ton geherrscht, Diffamierungen seien an der Tagesordnung gewesen - Hinterlassenschaften der ersten deutschen Demokratie, sagt Geppert. "Die Wahl von 1949 war gewissermaßen die letzte Weimarer Wahl." Am Ende der Legislatur steht eine denkwürdige Bilanz: 156 Ordnungsrufe, 40 Wortentziehungen und 17 Sitzungsausschlüsse gab es laut Statistik zwischen 1949 und 1953. So viel Krawall war nie wieder. Geppert sagt, der Bundestag habe erst einen "Zivilisierungsprozess" durchlaufen müssen. Die Entwicklung der Volksparteien CDU und SPD sowie die Einführung der Fünf-Prozent-Hürde haben diesen Prozess befördert.

Dass sich die Volksvertreter der ersten Stunde nicht nur mit Streit und Flegeleien beschäftigen, zeigt eine andere Zahl: In insgesamt 282 Plenarsitzungen arbeiten sie daran, der neuen Republik eine innere Ordnung und wirtschaftliche sowie soziale Stabilität zu verleihen - bis heute Rekord. Es gibt kaum sitzungsfreie Wochen, 545 Gesetze werden in den ersten vier Jahren verabschiedet. In den Fraktionen und Ausschüssen etabliert sich, was heute als "Arbeitsparlament" bekannt ist.

Am Sonntag, passend zum Jubiläum, lädt der Bundestag zum Tag der offenen Tür. Heute mag das Parlament unspektakulär erscheinen. Aber die "gähnende Langeweile" sorge für positive Ergebnisse, sagt der Passauer Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter. Erst mit der AfD seien seit 2017 "Polemiken wieder ins Parlament eingezogen, die man höchstens aus der Frühzeit des Bundestags kannte".

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SZ vom 07.09.2019
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