Süddeutsche Zeitung

70 Jahre Bundestag:"Das Parlament ist durch die Egozentrik der Bürger überfordert"

Der Bundestag steht im Jubiläumsjahr vor großen Herausforderungen. Politologe Heinrich Oberreuter über Rekordgröße, Vertrauensverlust und eine dominante Regierung.

Interview von Thomas Balbierer

Der Deutsche Bundestag trat am 7. September 1949 zu seiner ersten konstituierenden Sitzung im Bonner Bundeshaus zusammen. Das oberste Ziel der Nachkriegspolitiker war, eine stabile Demokratie zu errichten. In den folgenden vier Jahren trafen sich die Abgeordneten zu 282 Plenarsitzungen - so viele gab es später nie wieder - und verabschiedeten 545 Gesetze. Heute leben die Deutschen in einem wohlhabenden und wirtschaftlich erfolgreichen Land. Dennoch sind viele Bürger mit der Arbeit ihres Parlaments unzufrieden, wie eine aktuelle Studie der EU-Kommission zeigt.

Heinrich Oberreuter, Politikwissenschaftler aus Passau und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen, erforscht seit Jahrzehnten den deutschen Parlamentarismus.

SZ: Herr Oberreuter, Alterspräsident Paul Löbe eröffnete die erste Sitzung des neuen Bundestages mit den Worten: "Was erhofft sich das deutsche Volk von der Arbeit des Bundestages? Dass wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand entgegenführen." Darf man 70 Jahre später sagen: Auftrag ausgeführt?

Heinrich Oberreuter: Das kann man aus heutiger Sicht uneingeschränkt sagen. Damals ging es um den Aufbau der Republik sowie der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung. Das war eine Erfolgsstory, die man in der Gründungszeit der Bundesrepublik weder erwarten konnte noch erhofft hat. Eine Konsequenz dieses Aufbauerfolges war jedoch die Pluralisierung der Interessen in der Gesellschaft. Irgendwann konnten nicht mehr alle Interessen sozialstaatlich perfekt befriedigt werden. Das Land war nicht mehr in Not und die Bedürfnisse der Menschen differenzierten sich. Und so steht auch der Bundestag vor neuen Herausforderungen.

Welche Herausforderungen meinen Sie?

Die erste ist, Vertrauen wiederzugewinnen. Wir hatten vor 70 Jahren eine ganz miese Ausgangssituation, was die öffentliche Einschätzung der Fähigkeiten der Abgeordneten betrifft. Die hat sich später demoskopisch erfreulich nach oben entwickelt. Heute ist sie wieder auf dem niedrigen Stand der 50er Jahre. Vertrauensarbeit ist nötig. Das Parlament muss zeigen, dass es soziale und ökonomische Interessen befriedigen kann. Die zweite Herausforderung ist, Antworten auf die komplexen internationalen Entwicklungen zu geben. Manche Entwicklungen übersteigen selbst die Kompetenz von Fachleuten. Der Bundestag muss neben den alltäglichen Themen auch die großen Probleme behandeln. Polemisch könnte man sagen: Die Chinesen bauen die "Neue Seidenstraße" und wir fahren nur mit dem Elektroroller drauf herum. Die dritte Herausforderung ist eine Verbesserung der Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Die fehlende Wahrnehmung parlamentarischer Arbeit ist eines der größten Probleme.

Sie haben das fehlende Vertrauen angesprochen. Laut einer Befragung der EU-Kommission vertraut nicht einmal mehr die Hälfte der Deutschen dem Parlament. 2016 waren noch 61 Prozent der Befragten von Bundestag und Bundesrat überzeugt. Wieso wenden sich die Bürger ab?

Zugespitzt ausgedrückt liegt das an einer Überforderung des Parlaments durch die Egozentrik der Bürger. Jeder erwartet die möglichst perfekte Befriedigung seiner Interessen. Im Unterschied zu der Wirtschaftswunderzeit, in der jede Leistung allen Bürgern genutzt hat, funktioniert das heute nicht mehr. Durch die sozialen Medien können Bürger ihren egozentrischen Interessen immer stärker Ausdruck verleihen. Das Parlament hat jedoch die Aufgabe, nicht Einzelinteressen zu bedienen, sondern Interessensdifferenzen zu überwölben. Der ein oder andere bleibt also unzufrieden zurück. Eine andere Ursache für die schlechten Vertrauenswerte ist, dass viele Bürger eine plebiszitäre Demokratie bevorzugen würden. Die Abgeordneten müssen sich außerdem fragen lassen, ob sie ihre kommunikativen Aufgaben ernst genug nehmen. Bei manchen konkurriert der Blick auf die eigene Karriere mit der Kommunikation mit den Wählern.

Viele Politikwissenschaftler attestieren dem Bundestag einen Machtverlust, etwa weil Gesetze überwiegend auf Initiativen der Regierung statt des Parlaments zurückgehen.

Die Frage nach dem Machtverlust ist zu differenzieren. Ich wundere mich, dass selbst führende Politikwissenschaftler das System missverstehen. Es gibt nicht einen Dualismus zwischen Parlament und Regierung, sondern es gibt einen Dualismus zwischen regierender Mehrheit und Opposition. Die Frage nach dem Machtverlust stellt sich angesichts der Mitregierungsfähigkeit der Parlamentsmehrheit: Übertölpelt die Regierung ihre Basis im Bundestag permanent? Ein konkretes Beispiel: Die Regierungspartei CDU hat jahrelang unter einem Fraktionsvorsitzenden gelitten, der sich nicht als Türöffner der Fraktion gegenüber der Regierung verstanden, sondern sich darauf beschränkt hat, Angela Merkel den Rücken frei zu halten.

Sie sprechen von Volker Kauder.

Er ist fast über Nacht aus dem Amt entfernt worden. Das war nicht nur ein Ausweis von Protest der Abgeordneten, sondern auch Ausdruck des Anspruchs, mitregieren zu wollen und nicht nur als Abnickverein betrachtet zu werden.

Ist das unter dem neuen Fraktionschef Ralph Brinkhaus besser geworden?

Für eine abschließende Analyse ist er zu kurz im Amt. Trotzdem würde ich sagen, dass es intern besser geworden ist, weil auch die Kanzlerin in ihrer gegenwärtigen Position geschwächt ist. Sie ist Kanzlerin auf Abruf, damit ist der Spielraum für die Selbstständigkeit der Fraktion gewachsen.

Ist es aber nicht bedenklich, dass in der letzten Wahlperiode 87,5 Prozent der vom Bundestag verabschiedeten Gesetze auf Regierungsvorlagen zurückgehen und nicht einmal jedes zehnte Gesetz auf einer Initiative des Bundestags - der eigentlichen Legislative - beruht?

Diese Dominanz ist darauf zurückzuführen, dass die Regierung die gemeinsame Leitlinie der Regierungsmehrheit in konkrete Vorlagen umsetzt. Das ist keine Entmachtung, das ist Arbeitsteilung. Viele Regelungen würden in anderen politischen Systemen auch unter der Verordnungsgesetzgebung laufen, weil sie politisch unbedeutend sind. Aus den Daten alleine würde ich nicht auf eine Entmachtung des Bundestages schließen.

Wichtige Entscheidungen trifft die Große Koalition jedoch immer wieder im Koalitionsausschuss, in dem die Spitzen von CDU/CSU und SPD Kompromisse aushandeln.

Das ist eine der Achillesfersen. Um erträgliche Mehrheiten zu finden, wandern Fragen der Führung in andere Gremien aus. Da werden oft Entscheidungen getroffen, die von den Fraktionen nicht mehr zurückzuweisen sind. Weil eine Ablehnung möglicherweise zur Koalitionskrise führt. Aber man muss auch hier bedenken: Eine der wichtigsten Aufgaben des Bundestags in unserer Verfassung ist die Regierungsbildung. Das romantische Bild, dass sich beide frontal gegenüberstehen, stimmt nicht. Die Regierung ist ein Kind des Parlaments. Sie zu erhalten, ist ein wesentlicher Auftrag der parlamentarischen Arbeit. Die Preisgabe von politischen Positionen, um die Koalition nicht zerbrechen zu lassen, kann man natürlich als Machtverlust interpretieren. Aber wenn eine Partei die Regierung platzen lässt und in die Opposition muss, ist der Machtverlust noch größer.

Eine aktuelle Debatte betrifft die Größe des Parlaments. 1949 gab es 420 Abgeordnete, heute sind es 709. Medien nennen das Haus bereits "Bläh-Bundestag". Was ist denn verkehrt an einem großen Parlament?

Man könnte natürlich sagen, je größer der Bundestag ist, umso dichter können die Beziehungen zwischen den Abgeordneten und ihren Wählern sein. Wenn sich der Bundestag - ich übertreibe - aufbläht wie der Chinesische Volkskongress und mehr Abgeordnete hat als die beiden US-Kammern zusammen, muss man schon von einer Überdehnung reden. Schuld daran ist das komplizierte Wahlrecht mit seinen Überhangmandaten. Dem Bundestag muss man vorwerfen, dass es mit der Notwendigkeit einer Wahlrechtsreform nicht zurechtkommt.

Weil die Parteien an ihren Mandaten festhalten wollen?

Den Parteien ist ein Abgeordneter mehr lieber als ein Abgeordneter weniger. Bei einer Wahlrechtsreform müssten einige um ihre Position fürchten. Gleichwohl ist die Reform eine der drängendsten Aufgaben. Zündende Boulevardzeitungsartikel über den "Bläh-Bundestag" mit seinen hohen Kosten bestätigen doch vor allem Vorurteile.

Wie hat die AfD den Bundestag seit ihrem Einzug 2017 verändert?

Sie hat ihn zumindest nicht bereichert. Sie hat keine tragfähigen oppositionelle Alternativen formuliert, die es verdient hätten, im Sinne des Gemeinwohls verfolgt zu werden. Mit der AfD sind Polemiken wieder ins Parlament eingezogen, die man höchstens aus der Frühzeit des Bundestages kannte, als die Kommunisten noch darin saßen. Wenn man der AfD etwas Gutes abgewinnen will, dann, dass sich die Wähler, die die Partei aus Protestgründen unterstützt haben, in der Bundestagsdebatte wiederfinden.

Im Vergleich zum britischen Unterhaus wirken Bundestagsdebatten oft langweilig und langatmig. Würden Sie sich manchmal mehr Drama wünschen?

(Lacht) Die Frage ist Glatteis. Das britische Unterhaus hat eine ganz andere Parlamentstradition. Sie beruht auf der rhetorischen Auseinandersetzung, auch auf der polemischen Zuspitzung. Ein grundsätzlicher Unterschied ist, dass in Großbritannien die Exekutive sehr viel stärker ist als bei uns, das Parlament hat kaum die Möglichkeit, eigene Initiativen einzubringen. Die Grundstruktur des Unterhauses ist: Mehrheit versus Minderheit. Das widerspricht den deutschen Traditionen, die mehr an Sacharbeit orientiert ist. Deshalb ist die generelle Arbeit des Bundestags in der Tat durch gähnende Langeweile gekennzeichnet. Das kann man kommunikativ als Defizit bezeichnen, aber was die Ergebnisse betrifft, ist es eher positiv.

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