Am Ende eines turbulenten Tages hat der Bundestag am Freitagnachmittag den Gesetzentwurf der Union zur Verschärfung der Migrationspolitik abgelehnt. Bei einer Annahme hätte das Parlament zum ersten Mal in seiner Geschichte ein Gesetz nur dank der Mithilfe der AfD beschlossen. Bei der namentlichen Abstimmung gab es zwar 338 Voten für den Entwurf – sie kamen von Union, FDP, AfD und BSW. 349 Abgeordnete stimmten jedoch dagegen. Befrieden dürfte das die aufgewühlten Abgeordneten der verschiedenen Lager aber nicht so schnell. Denn die wechselseitigen Vorwürfe und Verletzungen der vergangenen Tage sind zu groß.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass sich im Bundestag etwas dramatisch verändert hat, dann hat ihn Rolf Mützenich an diesem Freitag erbracht. Der SPD-Fraktionsvorsitzende hatte bisher ein gutes persönliches Verhältnis zu CDU-Chef Friedrich Merz. Die beiden haben manchen Konflikt gemeinsam gelöst. Doch jetzt eröffnete Mützenich die Debatte über den Gesetzentwurf der Union mit einem dramatischen Appell: „Herr Merz – kehren Sie um, das wäre das Beste für unser Land.“
Vor zwei Tagen sei die Lebensader der Demokratie beschädigt, aber noch nicht durchschnitten worden, sagte Mützenich. Vor zwei Tagen, da hatte ein Antrag der Union mithilfe der AfD eine Mehrheit im Bundestag bekommen. So ein Antrag hat aber nur appellativen Charakter, anders als der Gesetzentwurf der Union. „Der heutige Tabubruch ist dramatischer als der vom Mittwoch“, sagte der SPD-Fraktionschef. „Denn zum ersten Mal besteht die Gefahr, dass mit Stimmen der AfD Recht und Gesetz im Bundestag geändert werden – und Deutschland aus der Mitte Europas heraustritt.“
„Aber das Tor zur Hölle können wir noch gemeinsam schließen“, sagt Mützenich
Der „Sündenfall“ vom Mittwoch „wird Sie immer begleiten“, rief Mützenich in Richtung Merz. „Aber das Tor zur Hölle können wir noch gemeinsam schließen.“ Der CDU-Chef müsse „die Brandmauer wieder hochziehen – mindestens darf heute nicht unser Land kippen. Kehren Sie zurück in die Mitte der Demokratie!“
Schärfer kann man jemanden kaum angreifen. Auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) attackierte Merz am Freitag hart. Die Auftritte von Mützenich und Baerbock zeigen, wie gespalten der Bundestag seit dieser Woche ist. Wie da nach der Wahl noch eine Koalition gelingen soll, ist unklar.
Es ist ein Spalt, der auch durch die Bevölkerung geht. Ausweislich der jüngsten Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen finden es 47 Prozent aller Wahlberechtigten gut, dass die Union am Mittwoch einen Antrag für eine schärfere Migrationspolitik mithilfe der AfD durchgesetzt hat, 48 Prozent verurteilen das. Die Umfragen zeigen aber auch, dass eine klare Mehrheit der Befragten für eine Verschärfung der Migrationspolitik ist.

Umfrage an der CSU-Basis in Bayern:„Mit der AfD dürfen wir nicht marschieren“
An der CSU-Basis trifft die von Unions-Kanzlerkandidat Merz angestoßene Abstimmung über ein härteres Asylrecht nicht nur auf Begeisterung. Im Gegenteil - es gibt Bedenken, dass der Schaden für beide Parteien groß sein könnte.
Die Unionsfraktion steckt deshalb in einem Dilemma. Ihr sogenanntes Zustrombegrenzungsgesetz, um das es an diesem Freitag ging, hatte sie bereits Anfang September in den Bundestag eingebracht. Damals bestand noch keine Gefahr, dass es nur mithilfe der AfD beschlossen werden kann – die Ampelkoalition war ja noch nicht zerbrochen. Es gab also keinen Grund für die Union, darauf zu verzichten, das ins Parlament einzubringen, was sie nach dem Anschlag von Solingen Ende August für nötig erachtete. Seit dem Bruch der Ampelkoalition bleibt ihr aber nur die Wahl, die eigenen Vorstellungen gar nicht mehr zur Abstimmung stellen zu können – oder Gefahr zu laufen, mit Stimmen der AfD zum Erfolg zu kommen.
Merz hat sich in der vergangenen Woche für die zweite Variante entschieden. Es ist eine riskante Entscheidung von erheblicher Tragweite. Das zeigen auch die Demonstrationen gegen die CDU, die es seit Mittwoch in vielen Städten gibt – oder die heftige Kritik der Kirchen und von Altkanzlerin Angela Merkel.
Am Freitag verteidigte Merz das Vorgehen der Union trotzdem vehement. Er griff einerseits die AfD hart an. Aber Merz glaubt auch, dass nach den Anschlägen und Messerattacken von Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg dringend Verschärfungen der Migrationspolitik notwendig sind. Es mag gerade viele geben, die wegen des Umgangs mit den AfD-Stimmen Sorgen um die Stabilität der Demokratie hätten, sagte der CDU-Chef. Aber mindestens so viele Bürger seien um die innere Sicherheit und die Ordnung im Land besorgt und würden jetzt zu Recht Entscheidungen des Bundestags erwarten. In dem Gesetzentwurf der Union gehe es doch nur um Maßnahmen in „kleinen Schritten“ wie zusätzliche Zuständigkeiten für die Bundespolizei und Änderungen beim Familiennachzug. Wenigstens da müssten SPD und Grüne doch zustimmen können.
Eine Rücküberweisung des Gesetzes in den Innenausschuss, die die FDP am Freitagmorgen ins Spiel brachte, lehnte die Union nach Gesprächen mit den Führungen der Fraktionen von SPD, Grünen und FDP ab. Auch die FDP zeigte sich von den Gesprächen mit den beiden Regierungsparteien enttäuscht und sprach sich am Ende für eine Abstimmung noch am Freitag aus.
Es war kurz nach 17 Uhr, als das Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt wurde. „Wir haben Kurs gehalten, wir haben uns nicht einschüchtern lassen“, sagte Merz anschließend. Er habe sich bei seiner Fraktion für die Unterstützung bedankt.
Doch ganz so einhellig war die Unterstützung der Unionsabgeordneten für den Kurs von Merz nicht. Es stimmte zwar niemand mit Nein, aber zwölf Parlamentarier nahmen nicht an der Abstimmung teil. Eine Abgeordnete fehlte wegen Krankheit, die anderen wegen ihrer Zweifel am Vorgehen von Merz. Unter ihnen waren Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas, Ex-Kanzleramtschef Helge Braun, Frauen-Union-Chefin Annette Widmann-Mauz, Roderich Kiesewetter, Ex-Staatsministerin Monika Grütters und Marco Wanderwitz, der Mitinitiator des AfD-Verbotsantrags ist.