Süddeutsche Zeitung

Bundestag:Unterstützt, aber nicht entmündigt

Nach knapp 30 Jahren wird das Betreuungsrecht reformiert. Die Gesetzesänderungen sollen vor allem die Selbstbestimmung der Menschen stärken. Doch das ist nicht immer einfach.

Von Edeltraud Rattenhuber, München

Wenn es um Selbstbestimmung geht, kann Anna Ludwig gut und gerne als Vorbild dienen. Mit 20 Jahren ist sie in einer "Nacht- und Nebelaktion", wie sie sagt, von zuhause ausgezogen. Zwei Taschen mit Habseligkeiten, sonst nichts. Der Vater wollte ihren Freund nicht akzeptieren. Ludwig, die eigentlich anders heißt, aber aus familiären Gründen ihren echten Namen nicht angeben will, flüchtete ins betreute Wohnen der Lebenshilfe und bekam einen gesetzlichen Betreuer zur Seite gestellt, der ihre Eigenständigkeit unterstützt.

Seit der Pubertät lebt sie mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Dass sie ausziehen könnte, war für die Eltern damals unvorstellbar. "Wir wissen schon, was gut für Dich ist" - mehr als andere kämpfen Menschen mit Behinderungen auch im Erwachsenenalter mit diesem - sicher meist gut gemeinten - Paternalismus. Eltern, die sich jahrelang um ihre Kinder mit teils schweren Beeinträchtigungen gekümmert haben, haben Angst, sie in die Freiheit zu entlassen.

Anna Ludwig könnte da einiges erzählen von ihren Kollegen aus der Behindertenwerkstätte, in der sie arbeitet. Gegen die elterlichen Betreuer aufzustehen, zumal wenn man mit einer Behinderung geboren wurde, ist nicht immer einfach. Aber auch Ärzte, Ämter, Banken nehmen Menschen mit Behinderungen oder Ältere oft nicht für voll, wenn sie wissen, dass eine Betreuung besteht. Bei Fragen wird dann zunächst immer der Betreuer angerufen.

Ob die Reform des Betreuungsrechts, die an diesem Freitag vom Bundestag beschlossen wurde, an solchen gesellschaftlichen Vorurteilen etwas ändern kann, ist fraglich. Das Thema ist sensibel. Doch verspricht sich der Gesetzgeber von der Reform, der ersten seit 30 Jahren, auch eine große Außenwirkung. Die Gesetzesänderungen sollen das Selbstbestimmungsrecht der etwa 1,3 Millionen Menschen, die in Deutschland unter rechtlicher Betreuung stehen, entscheidend stärken.

Im Betreuungsrecht sollen künftig die Wünsche des Betreuten "im Regelfall Vorrang haben"

An der Reform hat das Bundesjustizministerium mehrere Jahre lang gearbeitet. Zwei Forschungsvorhaben wurden in Auftrag gegeben. Menschenrechtler, Behindertenverbände und auch der zuständige UN-Ausschuss hatten vorher immer wieder gemahnt, dass die Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention nach größtmöglicher Selbstbestimmung in Deutschland bisher nicht durchgängig zufriedenstellend verwirklicht wurde. Zuletzt sah man das am Kampf betreuter Menschen, die ihr Wahlrecht wahrnehmen wollten, es aber nicht konnten, weil sie eine "Betreuung in allen Angelegenheiten" hatten.

Damit soll jetzt Schluss sein. Künftig soll vor einer Betreuung genau festgestellt werden, in welchen Bereichen der oder die Betreute von einem gesetzlichen Betreuer unterstützt werden muss. Anna Ludwig beispielsweise braucht Unterstützung vor allem in finanziellen und rechtlichen Fragen. "Ich kenne mich mit rechtlichen Sachen nicht so aus, das ist nicht das Meine", sagt sie. Ihr Betreuer nennt Ludwig einen vorbildlichen Fall. "Sie kann sehr viel selbständig" - im Vergleich zu den meisten anderen Fällen, mit denen er es zu tun hat.

Generell wird die Betreuungsrechtsreform begrüßt. Mit ihr einher geht auch eine Neufassung des Vormundschaftsrechts. Aus manchen Formulierungen im derzeitigen Recht spreche "ein falscher Paternalismus", erklärte die parlamentarische Staatssekretärin im Bundesjustizministerium, Rita Hagl-Kehl (SPD), bei der ersten Lesung des Gesetzes im Bundestag. Im Vormundschaftsrecht solle künftig das Kind im Zentrum stehen, der Vormund solle nicht nur Verantwortung für Vermögen, sondern auch für die Erziehung und das persönliche Wohl des Kindes übernehmen. Auch solle die Beziehung zwischen Pflegeeltern und Kindern gestärkt werden. Und beim Betreuungsrecht sollen künftig die Wünsche des Betreuten "im Regelfall Vorrang haben".

Trotz aller Zustimmung bleibt Kritik. So sieht die Grünen-Bundestagsabgeordnete Corinna Rüffer vor allem das Problem der "vermeidbaren Betreuungen" unangetastet. "Viele rechtliche Betreuungen werden nur deshalb von Gerichten angeordnet, weil Betroffene bei der Beantragung und Durchsetzung ihrer Sozialleistungsansprüche von den zuständigen Behörden nicht ausreichend unterstützt werden", beklagt sie. Rüffer ist Sprecherin der Partei für Behindertenpolitik. Sie meint, um Betreuungen zu vermeiden, die nicht nötig seien, sollte auch das Sozialleistungsrecht dringend überarbeitet werden.

Auf Länder und Kommunen kommen zusätzliche Kosten zu

Anna Ludwig beispielsweise könnte davon profitieren. Sie sagt: "Schreiben von Behörden kann ich oft nicht ausdeutschen". Aber leichte Sprache, einfachere Erklärungen für Menschen mit Beeinträchtigungen? Viele Behörden liegen da auch heute, mehr als zwölf Jahre nach Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention, noch ganz weit hinten. Ungeklärt bleibt auch nach der Reform, wie Betreuungsgerichte und Betreuungsämter erweiterte Unterstützung anbieten können. Da kommen auf Länder und Kommunen zusätzliche Kosten zu. Der Bundesrat muss dem Gesetz auch erst noch zustimmen.

Künftig sollen Betreuungen, die gegen den Willen der betreuten Person eingerichtet werden, spätestens nach zwei Jahren überprüft werden. Betreuer und Betreute sollen sich vorher kennenlernen. Beschwerdestellen sollen eingerichtet werden. Und Sterilisationen gegen den natürlichen Willen von Frauen mit Behinderung sind künftig ausgeschlossen.

Nach Meinung von Lydia Hajasch, die für die Lebenshilfe Bundesvereinigung die Reform begleitet und einige Nachbesserungen erreicht hat, ist aber auch weitere Information über die Belange von Betreuten nötig. "Man kann nicht alles gesetzlich verankern", sagte Hajasch der SZ. "Es muss noch ganz viel Aufklärung passieren, damit ein Betreuter in der Gesellschaft genau wie jeder andere erwachsene Mensch als geschäftsfähige und mündige Person angesehen wird."

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