Karikaturen von Juden mit Reißzähnen, Schweinsnasen und SS-Runen: Es sind diese hässlichen kleinen Bilder, die einige Künstler aus Indonesien bei der Kunstschau Documenta im hessischen Kassel im Sommer 2022 ausstellten, vor deren Hintergrund nun im Bundestag seit Monaten ein politischer Streit schwelt.
Der Grund: Die damaligen, antisemitischen Karikaturen waren auf staatliche Einladung hin ausgestellt worden. Die Künstler hatten üppige Fördermittel erhalten für ihre Kunst. Die politisch Verantwortlichen wie unter anderen die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) waren hinterher scharf kritisiert worden. Und wenn nun, 2024, im Bundestag eine Resolution gegen Antisemitismus geplant wird („Nie wieder ist jetzt“), dann legen viele Abgeordnete Wert darauf, dass aus diesem Documenta-Debakel die richtige Lehre gezogen wird.
Ein Scheitern der Resolution wäre „beschämend“, heißt es aus der Koalition
Nur: Was ist das, die richtige Lehre? Ein Entwurf für die jetzt geplante, fraktionsübergreifende Resolution kursiert schon seit dem Sommer und liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Darüber diskutieren Vertreter der Ampelparteien und der Union; eine Mitwirkung von AfD, Linken oder BSW ist nicht erwünscht. Eigentlich war geplant, spätestens zum Jahrestag des Hamas-Massakers am 7. Oktober einen Konsens zu finden, einen Text also, mit dem sich das Parlament zum Schutz jüdischen Lebens und zum Kampf gegen Antisemitismus bekennt.
Aber nun scheint sogar ungewiss zu sein, ob es mit einer Einigung bis zum 9. November klappt, dem Jahrestag der NS-Novemberpogrome. Ein solches Scheitern wäre „beschämend“, räumen Koalitionsvertreter ein. Es müsse unbedingt gelingen, alles andere wäre „völlig unverständlich“. Gleichzeitig soll die Resolution nicht nur Allgemeinplätze enthalten.
Die Diskussionen laufen zwischen den Fraktionsvizes Andrea Lindholz (CSU), Konstantin von Notz (Grüne), Dirk Wiese (SPD) und Konstantin Kuhle (FDP) – und sie entzünden sich an der Frage, wie sehr der Staat in die Kunst oder die Wissenschaft hineinregieren soll, um Vorfälle wie auf der Documenta zu verhindern. Zusätzliche Brisanz hat das Thema erhalten, nachdem das Bundesforschungsministerium unter der FDP-Politikerin Bettina Stark-Watzinger jüngst laut darüber nachgedacht hat, auch Fördermittel für Akademiker von deren Haltung zu antiisraelischen Protesten abhängig zu machen.
Die Union will der International Holocaust Remembrance Alliance folgen
Vor allem die Union vertritt klare Vorstellungen. Wann immer „zivilgesellschaftliche Organisationen“ sich um Fördermittel aus Töpfen des Bundes bewerben würden, so heißt es in einer Fassung des Entwurfs, seien „die Förderprojekte auf eine Unterstützung oder Reproduktion von antisemitischen Narrativen zu überprüfen“. Die Union möchte dazu eine Definition von Antisemitismus nutzen, die von einer Organisation mit 34, hauptsächlich europäischen und westlichen Mitgliedstaaten entwickelt worden ist, der International Holocaust Remembrance Alliance, kurz IHRA. Diese Definition ist sehr umfangreich und enthält etliche, ausdrücklich nicht abschließend gemeinte Beispiele für Antisemitismus. Sie wird auch vom Zentralrat der Juden in Deutschland befürwortet.
Insbesondere bei den Grünen gibt es dagegen Vorbehalte. Manche fürchten, mit der IHRA-Definition drohe auch Kritik an Israel allzu leicht in die antisemitische Ecke gestellt zu werden. Claudia Roth hatte deshalb im März eine Expertise des Verfassungsrechtlers Christoph Möllers von der Berliner Humboldt-Universität eingeholt. Möllers bestätigte, dass der Staat sich – verfassungsrechtlich – auf wackeligen Boden begeben würde, wenn er die IHRA-Definition zum alleinigen, rechtsverbindlichen Maßstab erheben würde.
In der Zwischenzeit hat sich auch eine kleine Gruppe besorgter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Fraktionsspitzen der Ampel und der Union gewandt. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi, der Göttinger Völkerrechtler und ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts Andreas Paulus, der Hamburger Privatrechtler Ralf Michaels, die Münchner Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky, der Anwalt und ehemalige Grünen-Abgeordnete Jerzy Montag, die Potsdamer Historikerin Miriam Rürup: Gemeinsam haben sie bereits Anfang September per Brief darum gebeten, der Zivilgesellschaft keine allzu engen Vorgaben zu machen.
Die Forscher schlagen eine weiter gefasste Formulierung vor
In einem „Formulierungsvorschlag“ für den Bundestag schrieben sie gemeinsam: „Antisemitische Projekte darf der Staat nicht wissentlich fördern. Angesichts der erheblichen juristischen und praktischen Schwierigkeiten, die einer staatlichen Überwachung dieser Erfordernisse im Einzelfall im Wege stehen, wird von geförderten – wie auch von nicht geförderten – Personen und Institutionen erwartet, in Eigenverantwortung Prozesse und Institutionen zu entwickeln, die einer Verwendung öffentlicher Gelder für die Verbreitung von Antisemitismus entgegenstehen; der Staat unterstützt sie dabei.“
Und weiter: „Was genau unter Antisemitismus zu verstehen ist und in welchen Situationen er vorliegt, bleibt Gegenstand fortwährender wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Reflexion; der Staat kann das nicht autoritativ festlegen.“ An diesem Mittwoch haben die Wissenschaftler ihren Textvorschlag auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht.
Aus dem Bundestag ist zu hören: Im Entwurf für die geplante „Nie wieder ist jetzt“-Resolution steht mittlerweile ausdrücklich, dass die IHRA-Definition nur zur Orientierung dienen, also nicht rechtsverbindlich sein soll. Und trotzdem: Einen Konsens in allen Details gebe es weiterhin nicht.