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Abgeordnete:Wer oft im Bundestag geredet hat - und wer fast nie

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165 Mal hat CSU-Parlamentarier Volker Ullrich in dieser Legislaturperiode vor dem Plenum gesprochen, auch zwei andere ergriffen mehr als 100 Mal das Wort. Manche Abgeordnete jedoch nur einmal, zweimal - oder kein Mal. Was sagen sie selbst dazu?

Von Boris Herrmann, Berlin

Der AfD-Abgeordnete Christoph Neumann beendete neulich eine Rede vor dem Deutschen Bundestag mit dem Satz: "Ich danke Ihnen fürs aktive Zuhören." Das waren auch deshalb treffende Schlussworte, weil es gar nicht so einfach ist, diesem Mann aktiv zuzuhören. Neumann ist nämlich ein eher passiver Redner. In seinen knapp vier Jahren als Parlamentarier stand er erst zweimal am Pult des Plenarsaals: einmal im Dezember 2019 und dann jetzt wieder, kurz vor dem Pfingstfest des Jahres 2021. "Ich versuche, die Themen ruhig anzugehen", schreibt er über sich auf seiner Internetseite. Man kann wohl sagen, dass ihm das bislang gut gelungen ist.

Andererseits: Christoph Neumann, 56, würde schon gerne öfter sprechen. Es liege an seinem Fachgebiet, dem Tourismus, dass er so gut wie nie zum Zuge komme, heißt es aus seinem Büro. Tourismuspolitische Themen würden leider kaum behandelt und wenn doch, dann werde um die kostbare Redezeit gebuhlt. Den Wählern seines Wahlkreises in Leipzig verspricht Neumann, er wolle "ihre Stimme in Berlin" sein. Aber nur etwa alle zwei Jahre ist diese Stimme dort auch tatsächlich zu vernehmen.

Zwei Reden in dieser Wahlperiode - das ist eine weniger, als Volker Ullrich in der zurückliegenden Sitzungswoche gehalten hat. Ullrich, 45, CSU-Abgeordneter aus Augsburg, sprach seit der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestags im Oktober 2017 bereits 165 Mal vor dem Plenum. Damit führt er das Ranking der Redebeiträge mit großem Abstand an. Auf Platz zwei liegt sein CSU-Kollege Sebastian Brehm mit 111 Reden. Für Ullrich gehört es zu seinen vornehmsten Pflichten, im Plenarsaal zu sprechen. Er sagt: "Es heißt ja Parlament. Das Wort leitet sich vom altfranzösischen Wort für Gespräch ab."

Das heißt natürlich nicht, dass dort nur geredet wird. Auch Volker Ullrich räumt ein: "Man ist nicht nur dann ein guter Abgeordneter, wenn man oft vor dem Plenum spricht." Aber ein bisschen stolz ist er natürlich schon auf seinen Spitzenplatz, der sich sicherlich auch in seinem Wahlkreis angemessen vermarkten lässt. Zumal er dort als Titelverteidiger auftreten kann. Auch in der vergangenen Wahlperiode hatte er schon die meisten Reden aller Abgeordneten gehalten.

Zehn Männer haben am meisten geredet

Es gab unter den Bundestagsabgeordneten immer die Vielredner, die Wenigredner und die Kaumredner. Aber derzeit ist die Diskrepanz besonders deutlich. Laut einer Statistik der Parlamentsdokumentation des Bundestags, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, haben drei Abgeordnete bereits mehr als hundert Mal geredet - neben Ullrich und Brehm auch der SPD-Politiker Helge Lindh. Dazu kommen sieben weitere Parlamentarier (ausschließlich Männer) mit mindestens 80 Reden. Unter den Frauen im Bundestag hat Gesine Lötzsch (Linke) am häufigsten das Wort gehabt (79 Mal). In der Liste sind aber auch 63 Abgeordnete mit weniger als drei Redebeiträgen aufgeführt. Der AfD-Tourismusexperte Christoph Neumann steht mit seiner weitgehenden Sprachlosigkeit also nicht alleine da.

Die Parlamentsstatistiker zählen allerdings nur jene Reden, die im Plenum des Bundestags in der Funktion "MdB" gehalten oder zu Protokoll gegeben wurden. Deshalb bedarf das untere Ende der Liste der Interpretation. Mit null Reden wird dort etwa die Bundestagsabgeordnete Angela Merkel aufgeführt, die natürlich schon oft im Bundestag gesprochen hat, aber eben stets in ihre Rolle als Kanzlerin.

Dasselbe gilt für jene Mitglieder ihres Kabinetts, die ebenfalls ein Bundestagsmandat besitzen, wie Außenminister Heiko Maas (SPD) oder Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sowie für allerlei Parlamentarische Staatssekretäre. Insgesamt sind in der Liste 738 Abgeordnete aufgeführt, obwohl der Bundestag nur 709 Mitglieder hat. Das erklärt sich mit den Nachbesetzungen für ausgeschiedene oder verstorbene Parlamentarier.

Unter jenen Abgeordneten, die wenig bis gar nicht reden, auch nicht in anderer Funktion, hört man unterschiedliche Erklärungen für ihre Zurückhaltung. Der 64-jährige CDU-Politiker Manfred Behrens (eine Rede) macht gesundheitliche Gründe geltend. Nach einer Operation im Hals-Rachen-Bereich falle ihm das Reden schwer.

Der SPD-Abgeordnete Ulrich Freese (eine Rede) sagt, im zarten Alter von 70 Jahren könne man auch mal freiwillig zurücktreten und den Jüngeren die Bühne überlassen. Er habe in seinem Leben schon so viel geredet und als Fachpolitiker für Wirtschaft und Energie bereits in der vergangenen Legislaturperiode alles Wesentliche gesagt. "Was ich noch zu sagen hätte, würde eh nicht in drei oder vier Minuten passen", sagt Freese. Matthias Büttner (AfD) und Kersten Steinke (Linke) antworteten nicht auf die Frage, weshalb sie erst einmal im Plenum gesprochen haben.

"Zudem sehe ich mich als Handwerker eher als Praktiker in der Ausschussarbeit."

Die Zahl Null steht in der Liste etwa hinter dem Namen Reginald Hanke. Der FDP-Politiker war im November 2019, also etwa auf halber Strecke der Wahlperiode, für seinen Parteikollegen Thomas Kemmerich nachgerückt. Hanke wartet noch immer auf seine sogenannte Jungfernrede im Parlament, für die es traditionell Glückwünsche vom Bundestagspräsidenten gibt. Als Mitglied des Petitions- und des Sportausschusses sei er eben mit Themen beschäftigt, die selten im Plenum behandelt würden. "Zudem sehe ich mich als Handwerker eher als Praktiker in der Ausschussarbeit", lässt er mitteilen. Hanke, 64, ist Malermeister.

Handwerker tun was und quatschen nicht so viel - der Gedanke, den der FDP-Politiker da skizziert, führt zu der politikwissenschaftlichen Erörterung, ob der Deutsche Bundestag vor allem ein Rede- oder eher ein Arbeitsparlament ist. Einerseits fordert ja schon das Grundgesetz, dass öffentlich verhandelt wird. Die möglichst zivilisierte Auseinandersetzung per Rede und Gegenrede ist eine der Kernaufgaben des Bundestags. Andererseits finden auch wesentliche Teile der Gesetzgebungsverfahren in den Ausschüssen und Fachgruppen, also hinter den Kulissen statt.

Der Politologe Stefan Marschall von der Uni Düsseldorf spricht deshalb von einer "Mischform aus Rede- und Arbeitsparlament". Der Bundestag ist nicht ganz so redselig wie das britische Unterhaus, aber deutlich debattenfreudiger als klassische Arbeitsparlamente wie der US-Kongress.

Beim Blick auf den Kreis der Vielredner fällt auf, dass sich darin keine Fraktionsvorsitzenden finden. Sie liegen alle irgendwo im soliden Mittelfeld zwischen Amira Mohamed Ali (Linke, 45 Reden) und Alice Weidel (AfD, 23 Reden). Offenbar picken sich die Chefinnen und Chefs die wichtigsten Debatten heraus und überlassen die breite Masse der Redegelegenheiten anderen.

Es sind weder die Granden noch die sogenannten Hinterbänkler, die im Plenarsaal am häufigsten in die Bütt steigen. Es sind eher die Mittelbänkler. Abgeordnete wie Volker Ullrich, der jenseits von Augsburg vermutlich nicht von vielen Bürgern auf der Straße erkannt wird, der aber immerhin Sprecher des Arbeitskreises für Inneres und Recht in der CSU-Landesgruppe ist.

In der Fraktionsspitze gilt Ullrich als seriöser Arbeiter mit einer wohltuend abwägenden Sprache, als eine Art Allzweckwaffe am Rednerpult. Bei ihm müsse man hinterher nicht die Scherben zusammenkehren, auch wenn er zu komplizierten Themen spreche, heißt es. Ullrich übernimmt auch gerne Redeslots in den Abendstunden, wenn andere Abgeordnete oft keine Lust mehr haben. Wenn es spät wird im Plenarsaal, geben viele Abgeordnete ihre Redebeiträge auch einfach zu Protokoll. Volker Ullrich versichert, er habe bis auf zwei, drei Ausnahmen alle seine 165 Reden dieser Wahlperiode auch tatsächlich gehalten.

Er weist aber darauf hin, dass seine erstaunliche Präsenz am Rednerpult zum Teil strukturelle Gründe hat. Wenn der Union in einer Debatte drei Redner zustehen, greift die Gewohnheitsregel, dass zwei Abgeordnete der CDU und einer der CSU sprechen. Da die CSU aber nicht einmal ein Viertel der Unionsabgeordneten stellt, kommt sie überproportional oft zum Zuge.

Eigentlich wollte Volker Ullrich in der zurückliegenden Sitzungswoche mal ausnahmsweise keine Rede halten. Dann kamen kurzfristig doch wieder drei Anfragen rein: In der Union wurden noch Redner gesucht zu so unterschiedlichen Themen wie Wahlwerbung, sexuelle Identität sowie zu einem AfD-Antrag für "mehr Demokratie" im Bundestag. Ullrich hat dann alle drei Reden spontan übernommen. Er sei eben "vielseitig interessiert", sagt er.

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