Süddeutsche Zeitung

Bundessozialgericht:Von Geistheilern und Gesundheitskarten

Die Urteile aus Kassel sagen viel über den Zustand von Politik und Gesellschaft.

Von Ulrike Heidenreich, Kassel

Bundessozialgericht - dieses Wort klingt nach komplizierter Materie, nach undurchschaubaren Paragrafen und Richtern, die mit dicken Sozialgesetzbüchern durch die ehrwürdigen Hallen ihres Amtsgebäudes in Kassel schlurfen. Tatsächlich aber kann man das oberste deutsche Sozialgericht als eine Art Pulsmesser für den Zustand von Politik und Gesellschaft sehen, mit einer gewissen Zeitverzögerung. Beispiel Koalitionspapier: Noch haben Union und SPD auf dieser Grundlage keine Regierung gebildet, der Gerichtspräsident weiß aber schon ziemlich genau, welche Arbeit das für seine Richter bedeuten würde - in vier bis fünf Jahren. Rechtsstreits drohen wohl vor allem wegen der Kompromisse bei den Renten.

Es klingt wie aus der Zeit gefallen: Was die 43 Bundessozialrichter in dem monumentalen, neoklassizistischen Bau aus den 1930er-Jahren in Kassel gerade beschäftigt, ist der alte Koalitionsvertrag von Union und SPD - der von vor vier Jahren. Darin ging es unter anderem um die Anrechnung von Rentenpunkten für Mütter, die vor 1992 Kinder bekommen haben. "Unsere Rentensenate prüfen, ob diese Stichtagsregelung überhaupt verfassungsgemäß ist", sagt Rainer Schlegel, Chef des Bundessozialgerichts. Und nun? Steht im neuen Koalitionspapier ein zusätzlicher Kompromiss, der erneut die Gerechtigkeitsfrage aufwirft: Dass Mütter, die vor 1992 drei oder mehr Kinder geboren haben, auch das dritte Jahr Erziehungszeit in der Rente angerechnet bekommen. "Es ist vorauszusehen, dass auch dieser Komplex bei uns anlanden wird, danach geht es nach Karlsruhe", so Schlegel.

Die Arbeit in Kassel geht nicht aus: 3633 Verfahren hat das oberste Sozialgericht im vergangenen Jahr gestemmt, es handelte sich um Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden. Im Jahr zuvor waren es 3691 Verfahren, das Niveau ist ähnlich hoch geblieben. Im Schnitt benötigen die Richter 10,9 Monate für eine Revision, also die Überprüfung eines gerichtlichen Urteils aus allen Ecken Deutschlands.

Vom 18. April an wird sich das Ende einer Verhandlung direkt verfolgen lassen: Von da an nämlich sind Kameras in den Sälen der Bundesgerichte erlaubt. Auf die Übertragung im Fernsehen bereite man sich professionell vor, sagt Jutta Siefert, Sprecherin des Bundessozialgerichts: "Wir absolvieren Medientrainings, arbeiten an der sprachlichen Fassung von mündlichen Urteilsverkündungen." Es lässt sich also künftig noch einfacher, per TV, verfolgen, wie lebensnah die Urteile sind. Und wie die Richter neue Familien- und Lebenskonstellationen bewerten. Eine Auswahl von Verfahren, die in den nächsten Monaten wichtig werden:

Gesundheitskarte mit Foto

Ist eine Krankenkasse berechtigt, ein Foto länger als zur Herstellung der elektronischen Gesundheitskarte zu speichern? Für Versicherte ab 15 Jahren ist das Lichtbild Pflicht, um Missbrauch wie einen Handel mit Karten zu verhindern. Nicht versicherte Patienten können sich beim Arzt nicht mehr so leicht als jemand anderes ausgeben. Manchmal war es ja sogar vorgekommen, dass ein Mann mit der Karte einer Frau aufgetaucht war. Ein Kläger fordert nun eine Gesundheitskarte gänzlich ohne Foto. Das wirft Fragen des Datenschutzes und der Rechtsgrundlagen auf.

Rente für Adoptiveltern

Um einen Rentenpunkt zusätzlich für die Erziehung von Kindern angerechnet zu bekommen, muss deren Betreuung vor Ablauf von zwölf Monaten nach der Geburt beginnen. Die Klägerin hatte mit ihrem Ehemann vier Kinder adoptiert. Zwei der Kinder lebten zunächst im Heim oder bei Pflegeeltern. Erst als sie älter als ein Jahr waren, kamen sie zur Adoptivmutter. Dieser wurde der Zuschlag bei der Rente mit der Begründung verwehrt, die Babys seien zu alt gewesen. Sie sieht darin eine Ungleichbehandlung von Müttern adoptierter Kinder gegenüber solchen leiblicher Kinder.

Geistheilerin als Unternehmerin

Qi Gong, Total Touch Pulsing, energetische Körperarbeit, russische Heilweisen sowie Geistheilung mittels Fernsitzung - all dies bietet eine Klägerin an, die sich als "im Gesundheitswesen selbständige Unternehmerin" sieht und somit als nicht beitragspflichtig. Das zuständige Landessozialgericht war anderer Meinung: Die Klägerin sei versicherungspflichtig in der gesetzlichen Unfallversicherung. Unter diese Pflicht fallen demnach Personen, die selbständig oder ehrenamtlich im Gesundheitswesen tätig sind. Die Geistheilerin klagt dagegen, ganz geerdet, in Kassel.

Versicherungsschutz der Oma

Ein Kleinkind fiel in einen Pool, während es sich in Obhut seiner Großmutter befand. Es erlitt eine Hirnschädigung, eine Epilepsie entwickelte sich. Um die Behandlungskosten bezahlen zu können, macht die Großmutter geltend, dass Kinder während der Betreuung durch "geeignete Tagespflegepersonen" unter dem Schutz der Unfallversicherung stünden. Die Richter lehnten dies ab: Betreuungspersonen müssten beim Jugendamt registriert sein. Ein Fall für das Bundessozialgericht - von grundsätzlichem Interesse für viele Familien.

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SZ vom 22.02.2018
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