Süddeutsche Zeitung

Umweltschutz:Lange vor den Grünen: die Geburtsstunde der Umweltpolitik

Vor 50 Jahren bekommt Deutschland sein erstes Umweltprogramm, Willy Brandt spricht von "Existenzfragen der Menschheit". Dann geschieht das, was mancher heute bei der Klimadebatte fürchtet.

Von Michael Bauchmüller, Berlin

Lange Demonstrationszüge durch Bonn? Transparente am Kanzleramt? Aktivisten im Sitzstreik? Weit gefehlt. Der Aufbruch der Bundesrepublik in die Umweltpolitik läuft so nüchtern ab, dass ihn kaum einer bemerkt. An einem Mittwochnachmittag, von 14.10 Uhr an, unter Tagesordnungspunkt 3. Im Kabinett gibt es noch mal eine längere Debatte, aber kaum Änderungen. Dann steht das erste deutsche Umweltprogramm. "Die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass Umweltpolitik den gleichen Rang hat wie andere öffentlichen Aufgaben", steht darin. Kanzler Willy Brandt spricht von "Existenzfragen der Menschheit", vom Recht künftiger Generationen auf "saubere Luft, reines Wasser und eine gesunde Landschaft".

Am kommenden Mittwoch ist das genau 50 Jahre her. Es ist der Tag, an dem der Grundstein gelegt wurde für nahezu alle großen Umweltgesetze danach, von der Luftreinhaltung über die Klärung von Abwässern bis hin zum Umgang mit wachsenden Abfallmengen. Das Verursacherprinzip findet damit Eingang in die deutsche Gesetzgebung, es lässt diejenigen für Umweltschäden haften, die sie verbockt haben. Fuß fasst auch das Vorsorgeprinzip, demzufolge der Staat einschreiten muss, ehe Probleme entstehen. Das Programm leistet Geburtshilfe für die deutsche Umweltbewegung. Und es gerät erst mit Verspätung ins Visier der Industrielobby. Sie kann es verzögern, aber nicht mehr zerschießen.

Mit dem Umweltschutz ist es Anfang der Siebziger noch nicht weit her. Sechs von zehn Bundesbürgern ist der Begriff gänzlich unbekannt. "Rauchende Schlote waren ein Wohlstandsindikator, nicht ein Problem", erinnert sich Martin Jänicke. "Die Umwelt lief in Zeitungen unter ,Vermischtes'." Auch die Süddeutsche Zeitung widmet dem Umweltprogramm vom 29. September nur eine kleine Meldung auf Seite 2 unten links: 15 Zeilen. Jänicke, später ein renommierter Umweltwissenschaftler, war bei der Wahl 1969 im Tross von Willy Brandt. Allerdings hat die Umwelt in Brandts Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Sie kommt über den Koalitionspartner. "Die radikale Umweltpartei", sagt Jänicke, "war damals die FDP."

Im Oktober 1971 verabschieden die Liberalen ein neues Grundsatzprogramm, die "Freiburger Thesen". Einer der vier Abschnitte widmet sich der Umweltpolitik. "Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen", steht da zu lesen. Den Umweltschutz wollen die Liberalen im Grundgesetz verankern. Nicht irgendwo, sondern in Artikel 2: als Grundrecht. "Die Umweltkrise ist weltweit", warnt das FDP-Programm. "Sie bedroht auch uns und unser Land."

Nixon trägt das Umweltthema in die Nato, als "dritte Dimension"

Tatsächlich schwappt diese erste Welle des Umweltbewusstseins vor allem aus dem Ausland nach Deutschland. In den USA macht Ende der Sechzigerjahre Präsident Richard Nixon den Umweltschutz zur Chefsache. Das Land steht unter dem Eindruck des Buchs "Der stumme Frühling". Darin beschreibt die Biologin Rachel Carson, wie DDT und andere Pestizide die Pflanzen- und Tierwelt dahinraffen. Nixon trägt das Umweltthema in die Nato, als "dritte Dimension" des Verteidigungsbündnisses. Für 1972 kündigen die Vereinten Nationen ein "Jahr der Umwelt" an, in Stockholm soll eine erste große Umweltkonferenz stattfinden. "Es war eine Euphorie zu Beginn der Siebziger", sagt Umweltforscher Jänicke. Elf Länder schaffen 1971 ein Umweltministerium, selbst die DDR.

In der Bundesrepublik aber gibt es noch keins, zuständig ist der Innenminister: Hans-Dietrich Genscher. Schon 1970 schreiben seine Beamten der Regierung ein "Umweltsofortprogramm", das etwa dem Blei im Benzin zu Leibe rückt. Es ist ein wackerer Stab. Von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat Genscher seinen Parteifreund Peter Menke-Glückert geholt, einen der Urheber des Umweltkapitels der "Freiburger Thesen". Und an seiner Seite hat der Minister den Staatssekretär Günter Hartkopf, einen Überzeugungstäter. "Dreck ist Dreck, egal wo er herkommt", sagt Hartkopf 1971 bei einer Jugendveranstaltung in Stuttgart. "Ich sage Ihnen als liberaler Politiker ganz offen, dass seit Langem viel zu viel falsch und noch mehr überhaupt nicht gemacht wurde."

Wer hätte das gedacht: Nicht Umweltgruppen treiben den Umweltschutz in Deutschland voran, sondern ein Zirkel von FDP-Leuten im Innenministerium. "Das war ein autonomer Prozess, der ganz allein aus der Verwaltung kam", sagt die spätere Verbraucherschutz-Chefin Edda Müller, damals selbst Beamtin im Innenministerium und FDP-Mitglied. "Das Fenster war geöffnet, und man hat es genutzt."

So neu ist die Umweltpolitik, dass es weder Gegner noch Befürworter gibt. Die Industrie wurde von dem Programm überrumpelt. "Da hatte sich noch keiner in die Schützengräben eingebuddelt", sagt Müller. Aber Umweltschützer gibt es auch noch nicht, ebenso wenig Umweltforscher oder Umweltbehörden. Das Umweltprogramm sieht deshalb einen "Sachverständigenrat für Umweltfragen" vor, im Dezember wird er gegründet. Eines seiner Mitglieder soll später Martin Jänicke werden. Auch ein "Bundesamt für Umweltschutz" soll entstehen, das 1974 dann als Umweltbundesamt im geteilten Berlin gegründet wird. "Und dann hat man begonnen, seine Truppen in der Gesellschaft aufzubauen", sagt Edda Müller.

Das Innenministerium zahlt Aktivisten die Reisekosten - so geht das damals zu

Die "Unterstützung von Bürgerinitiativen für ein neues Umweltbewusstsein" wird ausdrücklich zum Ziel des Programms, im Bundeshaushalt entsteht dafür ein eigener Titel. 1972 versammeln sich Bürgerinitiativen in Mörfelden-Walldorf, einem Widerstandsnest gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens; sie wollen dort den Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) gründen. Die Reisekosten für die Zusammenkunft übernimmt das Innenministerium. So geht es zu in den Anfangsjahren der deutschen Umweltbewegung.

Die Gegenseite allerdings wird auch wach. Im Herbst 1973 beendet der Ölpreisschock den deutschen Aufschwung, und 1974 tritt Brandt zurück. Für seinen Nachfolger Helmut Schmidt spielt der Umweltschutz nur eine Nebenrolle. Genscher wird Außenminister, und seine Nachfolger haben mehr mit Terroristen zu kämpfen als mit der Qualität von Luft und Wasser. 1975 erlebt die Wirtschaft die schlimmste Krise seit dem Weltkrieg. Industrie und Arbeitgeber beklagen mittlerweile, die geplanten Umweltauflagen gefährdeten massenhaft Arbeitsplätze. Schmidt ist alarmiert.

Im Juli 1975 lädt die Bundesregierung zu einer "Klausurtagung" auf Schloss Gymnich bei Bonn. Geladen sind neben Regierungsvertretern vor allem die Spitzen von Wirtschaft und Gewerkschaften. Thema: die "wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen von Umweltschutzmaßnahmen". Alles ist bereit für die Attacke auf das Programm, doch auch seine Verteidiger stehen bereit. Staatssekretär Hartkopf fürchtet eine "Beerdigung" des Umweltschutzes, aber so weit kommt es nicht.

Die frühen Wegbegleiter des Umweltprogramms nennen das Treffen bis heute nur schlicht "Gymnich". Zwar wurde keines der Vorhaben von 1971 ganz verworfen, aber das Tempo war raus. "Nach Gymnich wurde die Umweltpolitik defensiv", sagt der SPD-Umweltpolitiker Michael Müller, seinerzeit stellvertretender Juso-Chef. Fortan stehen Ökonomie und Ökologie gegeneinander, und auch im nächsten Grundsatzprogramm der FDP, den "Kieler Thesen", kommt die Umwelt 1977 nur noch am Rande vor. "Wer Umwelt und Ressourcen schützen will, darf nicht die Investitions­fähigkeit der Unternehmen einschränken, mit der Folge eines Wachs­tumsstops", heißt es da jetzt. Dafür werden die Umweltgruppen nun stärker, und 1980 gründen sich die Grünen.

Ende der Achtziger rollt noch einmal eine Welle des Umweltbewusstseins an, nun rund um den Kampf gegen die Atomkraft und die Angst vor dem Klimawandel. Doch dann kommen die Wiedervereinigung und eine Rezession, und das Thema ebbt ab. "Das Umweltprogramm 1971 fiel in eine historisch günstige Phase", sagt Michael Müller heute. Dann sei es kleingekocht worden. "Und manchmal", setzt er hinzu, "habe ich Angst, dass es mit der aktuellen Klimadebatte ähnlich läuft."

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