Bundesregierung:Sind Neuwahlen überhaupt möglich?

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Am 24. Oktober erst hat Frank-Walter Steinmeier der Kanzlerin ihre Entlassungsurkunde überreicht. Nun weist ihm der Verfassungsartikel 68 eine Rolle bei der Suche nach einer neuen Regierung zu. (Foto: imago/photothek)
  • Während sich die Jamaika-Sondierungen hinziehen, steht die Möglichkeit von Neuwahlen im Raum. Das klingt einfacher als es ist.
  • Die drei vorgezogenen Neuwahlen in der Geschichte der Bundesrepublik wurden von Kanzlern mit der Vertrauensfrage herbeigeführt. Dieser Weg steht Merkel gar nicht offen.
  • Nach dem Grundgesetz muss der Impuls vom Bundespräsidenten ausgehen. Er könnte Neuwahlen veranlassen, aber dafür müsste er den Bundestag erst einen Kanzler wählen lassen.

Von Nico Fried, Berlin

Jeden Tag spricht irgendjemand darüber: Neuwahlen. Die einen warnen davor, so wie jetzt erneut die Kanzlerin. Die anderen lassen zumindest den Gedanken immer wieder durch ihre Interviews tänzeln, vor allem die FDP. Und SPD-Chef Martin Schulz fordert eine weitere Bundestagswahl bereits jetzt für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition.

Viele führen den Begriff im Munde, aber wenige wären verfassungsrechtlich berufen, Neuwahlen tatsächlich herbeizuführen. Besser gesagt nur einer: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Aber der kann sie auch verhindern.

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Dreimal - 1972, 1983 und 2005 - gab es in der Bundesrepublik vorzeitige Neuwahlen. Jedes Mal kam der Impuls vom amtierenden Kanzler selbst: Willy Brandt (SPD), Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) wählten den Weg einer Vertrauensfrage im Bundestag, bei der sie unterlagen, weil sie gar nicht gewinnen wollten. Denn nur der Entzug des Vertrauens eröffnete ihnen nach Artikel 68 Grundgesetz die Möglichkeit, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorzuschlagen. Gustav Heinemann, Karl Carstens und Horst Köhler kamen dem nach und setzten Neuwahlen an. Das Problem: Dieser Weg steht Angela Merkel (CDU) nicht mehr offen.

Paradoxerweise führt der einzige Weg über die Wahl eines Kanzlers

Vor zwei Wochen hat sich der 19. Bundestag aufgrund des Wahlergebnisses vom 24. September konstituiert. Seither ist auch Merkels Bundesregierung nur noch geschäftsführend im Amt. Zwar heißt es immer wieder leichthin, eine geschäftsführende Bundesregierung dürfe eigentlich alles, was eine normale Bundesregierung dürfe. Doch es gibt eine Einschränkung: Merkel kann dem neuen Parlament nicht die Vertrauensfrage stellen, weil sie von dessen Abgeordneten vorher ja gar nicht gewählt worden ist.

Somit bleibt nur noch eine Option, die sich aus Artikel 63 Grundgesetz ergibt. Paradoxerweise führt dieser Weg über die Wahl eines Kanzlers oder einer Kanzlerin nur zu dem Zweck, diese Regierung sofort wieder zur Disposition stellen zu können. Die Wahl des Bundeskanzlers respektive der Bundeskanzlerin im Parlament findet statt, wenn der Bundespräsident dem Bundestag einen Kandidaten präsentiert.

Da wird es schon kitzlig. Denn üblicherweise schlägt das Staatsoberhaupt dem Parlament einen Regierungschef zur Wahl in dem Moment vor, da sich mehrere Parteien zu einer Koalition mit absoluter Mehrheit gefunden haben. Wenn dies nicht der Fall ist, steht es im Ermessen des Bundespräsidenten, einen Vorschlag zu machen - oder womöglich auf weitere Verhandlungen auch anderer Parteien zu dringen. Eine Frist muss er nicht einhalten.

Kommt keine Mehrheit zustande, hat der Bundespräsident sieben Tage Zeit

Ausgerechnet der einstige SPD-Politiker Steinmeier könnte also - nur so zum Beispiel - die auf ein Oppositionsdasein eingeschworenen Sozialdemokraten ganz überparteilich und begleitet von einem Appell an ihre staatspolitische Verantwortung zu Koalitionssondierungen bitten. Natürlich nur theoretisch.

Wahrscheinlicher ist, dass Steinmeier eine Politikerin oder einen Politiker der stärksten Fraktion, also von CDU/CSU, vorschlägt, zum Beispiel Angela Merkel. In zwei Wahlgängen, die binnen 14 Tagen stattfinden müssen, bräuchte sie die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also 355 Stimmen. Die Union hat aber nur 246. Sollte sie in geheimer Abstimmung dennoch die absolute Mehrheit erzielen, muss Steinmeier sie ernennen.

Im dritten Wahlgang reichte Merkel die einfache Mehrheit. Dann aber wäre der Bundespräsident, sonst von der Verfassung mit wenigen wirklichen Befugnissen ausgestattet, plötzlich in einer besonders starken Position. Denn Steinmeier hätte nun die Wahl, innerhalb von sieben Tagen Merkel zu ernennen und faktisch eine Minderheitsregierung ins Amt zu bringen - oder aber den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen binnen 60 Tagen anzusetzen.

Womit ist dem Wohl des Volkes gedient?

Der Bundespräsident ist dabei an keine Vorgaben gebunden. Seine Entscheidung muss sich daran ausrichten, was er staatspolitisch für vernünftig hält. Er müsste also abwägen zwischen einem neuen Wahlkampf und einer unabsehbaren Regierungsbildung einerseits - oder einer Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten, aber personeller Kontinuität an der Spitze andererseits.

Dabei wäre es eine hübsche Ironie der Geschichte, wenn Steinmeier, der im Frühjahr bei der Wahl zum Bundespräsidenten ohne Merkels Union keine sichere Mehrheit in der Bundesversammlung gehabt hätte, nun Merkel ohne sichere Mehrheit im Bundestag im Amt hielte. Pikant - und unwahrscheinlich.

2005, als Köhler den Bundestag auf Vorschlag Schröders auflöste, begründete er das damit, dass Deutschland eine Regierung brauche, die ihre Ziele "mit Stetigkeit und Nachdruck" verfolgen könne. Sie sei dabei auf eine "handlungsfähige Mehrheit" im Bundestag angewiesen.

"Dem Wohl des Volkes" sei deshalb mit Neuwahlen am besten gedient, so Köhler damals unter Berufung auf die Lage des Landes: Millionen Menschen seien arbeitslos, die öffentlichen Haushalte befänden sich in einer kritischen Lage. Da sich zumindest das mittlerweile gebessert hat, könnte Steinmeier das Wohl des Volkes anders definieren, den Bundestag nicht auflösen und Neuwahlen verhindern. Theoretisch.

© SZ vom 07.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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