FDP-Chef Christian Lindner hat nach seinem Rauswurf als Bundesfinanzminister durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) einen schwerwiegenden Vorwurf gegen den Regierungschef erhoben: Dieser habe ihn gedrängt, seinen „Amtseid zu verletzen“ – gemeint ist damit, dass der vom Kanzler ultimativ geforderte Beschluss, die Regelung der Schuldenbremse im Grundgesetz auszusetzen, womöglich gegen die Verfassung verstoßen hätte und gegen deren Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht.
Die Karlsruher Richter hatten vor ziemlich genau einem Jahr das Gesetz zum zweiten Nachtragshaushalt 2021 für nichtig erklärt und in ihrem Urteil den juristischen Prüfmaßstab konkretisiert. Es steht dem Bundestag nicht frei, einen „Überschreitungsbeschluss“ zu fassen, wie der vom Kanzler bevorzugte Begriff vielleicht nahelegen könnte. Voraussetzung ist laut Artikel 115 des Grundgesetzes vielmehr eine außergewöhnliche Notsituation, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt.
Die Karlsruher Richter interpretierten die Schuldenregel sehr strikt
Bleibt die Frage: Wäre die Bundesregierung mit einer Aussetzung der Schuldenbremse in Karlsruhe durchgekommen? Tatsächlich lässt sich das abschließend nicht bewerten. Es gab dazu nach Lindners Worten „nicht einmal eine präzise Vorlage, um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieses Vorschlags zu prüfen“, was er als „fahrlässigen Umgang mit dem Grundgesetz“ geißelte.
In der elfseitigen Vorlage für den Koalitionsausschuss kommt der Notlagenbeschluss nicht vor, da ist lediglich die Rede von Aufwendungen in Höhe von 12,5 Milliarden Euro, die im Regierungsentwurf für den Haushalt geplant waren. Zudem wollte Scholz drei Milliarden zusätzlich zur Unterstützung der Ukraine bereitstellen. Die Liberalen wollten diese dagegen durch Umschichtungen im Haushalt verfügbar machen.
In seinem Grundsatzurteil von 2023 hat das Verfassungsgericht die Schuldenregel sicherlich sehr strikt interpretiert. Die Frage, ob eine „außergewöhnliche Notsituation vorliegt, die sich der Kontrolle des Staates entzieht, unterliegt vollumfänglicher verfassungsgerichtlicher Prüfung“, heißt es dort. Das klingt zwar nach strenger höchstrichterlicher Aufsicht. Aber dass der Krieg in der Ukraine eine solche „außergewöhnliche Notsituation“ darstellt, hätte mutmaßlich auch das Gericht kaum in Abrede gestellt.
Der frühere Verfassungsrichter und CDU-Politiker Peter Müller, der an dem Urteil maßgeblich beteiligt war, sagte der Süddeutschen Zeitung: „Ich denke, dass man eine Notlage mit dem Ukraine-Krieg begründen kann: Der Krieg war unvorhersehbar. Er dauert jetzt zwar schon drei Jahre, das ändert aber nichts daran, dass man damit nicht rechnen konnte.“ Er führe zudem zu erheblichen zusätzlichen Aufwendungen, das sei „deutlich haushaltsrelevant“. Das sieht Müller auch bei dem in Rede stehenden Betrag von drei Milliarden Euro als gegeben.
Die neuen Schulden dürfen nicht für beliebige Projekte ausgegeben werden
Entscheidend wären daher die weiteren Prüfungspunkte, die das Gericht aufgestellt hat. So muss ein „sachlicher Veranlassungszusammenhang“ zwischen Notlage und neuen Schulden bestehen. Die Regierung kann nicht die Notlage ausrufen und die Kredite hinterher in die Wirtschaftsförderung stecken. Diffiziler ist die Frage, auf welche Ausgaben sich der geforderte Zusammenhang noch erstreckt – und worauf nicht mehr.
Müller sagt, der Veranlassungszusammenhang müsse gewährleistet sein. Das heiße, dass „die Mittel, die zusätzlich über die Schuldenbremse hinaus aufgenommen werden, auch spezifisch zur Bekämpfung der Notlage eingesetzt werden müssen“. Das sei bei der direkten Unterstützung der Ukraine gegeben. „Nicht eindeutig ist das allerdings schon bei der Frage, ob darunter etwa auch Ausgaben fallen wie die Unterstützung von geflüchteten Ukrainern durch die Zahlung von Bürgergeld in Deutschland“.
Das Gericht nimmt allerdings beim Veranlassungszusammenhang seine Kontrolle ein Stück weit zurück – hier genieße der Gesetzgeber einen „Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum“. Es käme also wohl im Einzelnen auf die Begründung an – und darauf, welche mittelbaren Kosten die Regierung jenseits von Waffenlieferungen, humanitärer Hilfe und anderen direkten Leistungen an die Ukraine in einen Notlagenbeschluss packen würde und wie sie dies begründet.
Auch im dritten Kriegsjahr könnte die Schuldenbremse nachvollziehbar ausgesetzt werden
Allerdings verengt sich der Spielraum, je länger die Notlage dauert. Es bedürfte also einer wirklich überzeugenden Begründung, um im Jahre drei nach dem russischen Angriff die Notlage auszurufen. Unüberwindlich wäre aber auch diese Hürde nicht. Das Vorrücken der russischen Front, die Ungewissheit über US-Hilfen nach der dortigen Wahl, die dadurch wachsende Bedrohung auch für Deutschland, womöglich auch die Erwartung weiterer Flüchtlingsströme – all dies könnte die Aussetzung der Schuldenbremse nachvollziehbar machen.
Dass die vorigen Haushalte seit Kriegsbeginn auf diese Möglichkeit verzichtet haben, errichtet keine Sperre. Es wäre also nicht zwingend gewesen, auch für den regulären Haushalt 2024 und den geplanten Nachtragshaushalt 2024 ebenfalls eine Notlage zu beschließen.
Hinzu kommt: Der Zweite Senat ist inzwischen neu zusammengesetzt. Wichtige Akteure wie Müller sind ausgeschieden. Dadurch wird sich die strenge Karlsruher Linie bei der Schuldenbremse nicht ins Gegenteil verkehren. Aber einen Bundeshaushalt zu pulverisieren, ist für das Gericht durchaus ein harscher Übergriff in politische Gefilde; so etwas wiederholt das Gericht ungern alle ein, zwei Jahre.