Der Expertenrat für Klimafragen hat eine nüchterne Art, große Dinge festzustellen. Das Gremium, eingesetzt von der Bundesregierung, soll deren Klimazahlen prüfen. Doch das Ergebnis ist, nun ja, ungünstig. "Wir gelangen einerseits zu einer anderen Einschätzung wesentlicher Annahmen", sagt Hans-Martin Henning, der Chef des Expertenrats, am Montag. Andererseits gebe es methodische Schwächen. Kurzum: Der Projektionsbericht, den die Bundesregierung für die nächsten Jahre aufgestellt hat, ist so nicht haltbar - die Regierung war viel zu optimistisch. "Wir kommen zu der Feststellung, dass die in den Projektionsdaten ausgewiesene Zielerreichung nicht bestätigt werden kann, sondern im Gegenteil von einer Zielverfehlung ausgegangen werden muss", sagt Henning. Dies sei eine Feststellung im Sinne des Gesetzes. Und hier beginnt das Problem.
Denn die Projektionsdaten stehen im Zentrum des geänderten Klimaschutzgesetzes. Werden diese in zwei Jahren nacheinander verfehlt, dann muss die Bundesregierung handeln. Nach deren Daten hätte Deutschland bis 2030 die Klimaziele erreicht. "Deutschland ist auf Kurs - erstmals", jubelte Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) noch im März, als die Zahlen des Umweltbundesamtes vorgelegt wurden.
Jetzt wird deutlich: Wenn Deutschland diesen Kurs hält, dann verfehlt es nicht nur das Ziel für 2030, sondern auch alle Ziele danach. Auch in der Zeit bis 2040 werde Deutschland sein Klima-Budget um zehn Prozent überschreiten. Das deutsche Ziel - Treibhausgasneutralität bis 2045 - werde so verfehlt, beklagt der Expertenrat. Nicht einmal im Jahr 2050 werde es erreicht. "Man sieht, dass das Ziel in weite Ferne rückt", sagt Brigitte Knopf, die stellvertretende Vorsitzende des Rats. Eine langfristige Strategie fehle aber.
Ein Sprecher des Verkehrsministeriums wiegelt ab
Das Urteil des Expertenrats hat einiges Gewicht. Es ist entscheidend, nicht die Zahlen der Bundesregierung sind es. Wenn sich die Lage bis zum kommenden Jahr nicht auf wundersame Weise verändert, hätte vor allem der Verkehrsminister von der FDP ein Problem. Denn das novellierte Klimaschutzgesetz verlangt binnen drei Monaten einen Plan der Bundesregierung, wie sie den Kurs korrigieren will. Dabei sollen besonders jene Ressorts liefern, in denen die Ziele am stärksten verfehlt werden - und das ist nach wie vor der Verkehrsbereich, gefolgt von Gebäuden. Diese Sektoren fallen zudem besonders ins Gewicht bei den Regularien zur CO₂-Lastenteilung der EU. Bei Überschreitung der erlaubten Werte muss die Bundesregierung Zertifikate von anderen Ländern kaufen, die ihre Ziele übererfüllt haben. Das dürfte absehbar teuer werden. Manche sprechen von drohenden Milliardenkosten.
Ein Sprecher des Verkehrsministeriums wiegelt ab. Man habe im Verkehrssektor ungleich größere Herausforderungen als in anderen, man sei gegen Verbote. Fällt aber das Urteil der Experten im nächsten Jahr so aus wie in diesem, steuert die Ampelkoalition mitten im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2025 auf eine Klimadebatte zu. "Das ist heute eine neue Botschaft an die Bundesregierung", sagt Knopf. Bisher sei ihr vielleicht nicht bewusst gewesen, dass sie vor diesem Problem stehe.
Ungewiss ist dennoch, ob sich SPD, Grüne und FDP zu weiteren Maßnahmen aufraffen. So ist aktuell ein Kernproblem laut Expertenrat die Kürzung der Mittel im Klima- und Transformationsfonds (KTF). Vor allem deshalb, weil die Bundesregierung stark auf Förderprogramme setzt. Ein Sprecher von Habecks Ministerium erklärte prompt, dass die Finanzierung des KTFs Gegenstand der Haushaltsberatungen für 2025 sein werde. Dass die FDP hier mitspielt, gilt aber als unwahrscheinlich.
Andere Faktoren liegen nicht nur in den Händen der Bundesregierung. Großen Einfluss etwa haben der Handel mit CO₂-Zertifikaten in der Europäischen Union und der Erdgasmarkt. Hier führen hohe Preise zu schnellem Klimaschutz, niedrigere Preise bremsen. Und der Expertenrat erwartet eher moderate Kosten in den kommenden Jahren, die Internationale Energieagentur (IEA) glaubt sogar, dass die Gaspreise absehbar fallen werden, weil vor allem aus den USA und Katar riesige Fördermengen auf den Weltmarkt drängen.
Die EU kommt beim Bau von Wind- und Solaranlagen voran
Gute Nachrichten zur Energiewende kommen indes von den Datensammlern der Denkfabrik Ember aus London. Ihren Zahlen zufolge hat sich in den 27 Mitgliedstaaten der EU seit 2019, dem Antritt der noch amtierenden Kommission, die installierte Leistung von Wind- und Solaranlagen um 65 Prozent erhöht. "Die EU befindet sich inmitten eines historischen, dauerhaften Wandels weg von der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen für die Stromerzeugung", erklärt Sarah Brown, Europa-Expertin bei Ember. Länder wie die Niederlande oder Polen haben die Kapazität von Wind und Solar mehr als verdreifacht, einige andere mehr als verdoppelt. Mit 42 Gigawatt kam der größte Teil des EU-Zuwachses aus Deutschland.
Dennoch drängelt der Expertenrat, die Transformation müsse schneller gehen, um die ambitionierten Klimaziele zu erreichen: Er empfehle, "nicht auf das abermalige Eintreten einer Zielverfehlung zu warten, sondern die zeitnahe Implementierung zusätzlicher Maßnahmen zu prüfen".