Wer den Job des Bundesfinanzministers übernimmt, das lehrt die Erfahrung, der bucht die Rolle des politischen Buhmanns immer gleich mit. Was sich Christian Lindner in den vergangenen Tagen insbesondere vom Koalitionspartner SPD hatte anhören müssen, ging jedoch über das übliche Maß an Unhöflichkeiten weit hinaus. „Unverantwortlich“ sei der FDP-Chef, hieß es, weil er notwendige Investitionen verweigere und die kreativen Finanzierungsideen des Bundeskanzlers mit zweifelhaften verfassungsrechtlichen Gutachten abbügele. Parteichefin Saskia Esken nannte Lindner gar „unanständig“.
An diesem Montag nun lässt sich der viel Gescholtene auf die nächste Bewährungsprobe ein, doch Überraschung: Diesmal erhält er Zuspruch – und das ausgerechnet von denen, die sonst mit der Regierung gerne noch schärfer ins Gericht gehen als die politische Konkurrenz: den Wählern. Kurz nach Mittag steht Lindner in der Potsdamer Schinkenhalle, einem hübsch restaurierten ehemaligen Reitstall im Kulturquartier Schiffbauergasse, und erörtert mit etwa 100 Bürgerinnen und Bürgern das Weltgeschehen. Gleich die zweite Fragestellerin meint es gut mit dem Gast aus dem benachbarten Berlin: Sie wolle erst einmal die Regierung loben, die ihre Arbeit besser mache, als das in der Öffentlichkeit oft dargestellt werde, sagt sie. Der Minister strahlt, so freundlich hat lange niemand mehr über die Ampelkoalition gesprochen – schon gar nicht die Ampelkoalition selbst.
Zwei Wahrheiten will Lindner „den Menschen nicht ersparen“
Lindner ist, wie er sagt, „direkt aus dem Wald“ nach Potsdam gekommen, die Krawatte hat er im Auto gelassen. Statt des üblichen Anzugs trägt er ein weißes Hemd, blaues Sakko, graue Jeans und grau-blaue Sneaker. „Eben im Bundesforst in Lehnin waren es noch Gummistiefel“, witzelt er. Die gewachsene Distanz zwischen Politik und Wahlvolk wieder abzubauen, sei das Ziel des „Bürgerdialogs“, der ihn in den vergangenen 15 Monaten schon in alle Teile des Landes geführt hat. Manche Bürgerinnen und Bürger behaupteten ja, man dürfe in Deutschland nicht mehr alles sagen, was man denke. „Wir sprechen hier über alles“, sagt Lindner, „jeder darf seine Meinung sagen.“
Das tun die Menschen dann auch, aber in einem Ton, der im politischen Berlin längst verloren gegangen ist. Provokantes bekommt der Minister nicht zu hören. Wie er es angesichts der mageren Olympia-Bilanz mit der Förderung des Sports halte, will ein Mann mittleren Alters wissen. Andere fragen nach der Zukunft der Rentenversicherung, der Idee des Generationenkapitals, dem Startchancenprogramm für benachteiligte Schüler, der Digitalisierung, dem Banken-Regelwerk Basel 3.
Lindner hat auf alle Fragen eine Antwort, selbst zu Basel 3 fällt ihm etwas ein. Wie ein Conferencier durchschreitet er den Saal, das Mikrofon fest mit der linken Hand umklammert. Immer wieder streut er kleine Witzchen ein, es ist ein Format, das er schlicht beherrscht. Nur einmal wird der FDP-Chef sehr ernst, es gebe nämlich, so sagt er, zwei Wahrheiten, die er den Menschen nicht ersparen könne. Zum einen müsse das durchschnittliche Renteneintrittsalter von heute 64 auf 67 Jahre steigen – und zwar rasch. Anders sei das Rentensystem auf Dauer nicht zu finanzieren. Zum anderen gelte: „Wir brauchen Einwanderung!“ Zwar dürfe es keine ungesteuerte Zuwanderung in die Sozialsysteme geben. Der Arbeitsmarkt aber werde mittel- und langfristig ohne Fachkräfte aus dem Ausland nicht auskommen. Wer wie die AfD Zuwanderung grundsätzlich verteufele, spalte deshalb nicht nur die Gesellschaft, sondern sei auch ein Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Ein Bürger zu Lindner: „Bitte stark bleiben“
Das Thema, das das politische Berlin derzeit beschäftigt wie kein anderes, kommt erst ganz zum Schluss zur Sprache – und auf eine Art, wie sie schöner nicht sein könnte für Lindner. Er habe gar keine Frage, sagt ein Zuhörer, er wolle einfach Danke sagen, dass Lindner den Haushaltsentwurf diesmal vor der Verabschiedung habe juristisch prüfen lassen, statt erneut auf eine Watschn des Bundesverfassungsgerichts zu warten. Und überhaupt: Deutschland dürfe mit Blick auf künftige Generationen nicht über seine Verhältnisse leben, der Minister möge deshalb „bitte stark bleiben“ beim Thema Schuldenbremse – trotz SPD-Kritik.
Ein besseres Schlusswort hätte auch Lindner selbst nicht finden können, er versucht es deshalb erst gar nicht. „Danach kann nichts mehr kommen“, sagt er, „ich danke Ihnen für Ihr Interesse.“