Es ist eine Ohrfeige, die gehörig schmerzt - und Christian Lindner doch gelegen kommt: Der Bundesrechnungshof geht in einer Stellungnahme zur laufenden Aufstellung des Bundeshaushalts 2024 mit dem Finanzgebaren der Ampelkoalition scharf ins Gericht und fordert, den ungebremsten Anstieg der Staatsverschuldung endlich zu stoppen. "Permanent in neue Schulden auszuweichen, ignoriert die Realität und übergeht die Interessen vor allem der jungen Generation", sagte Rechnungshofpräsident Kay Scheller, der als "Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung" die Regierung bei der Etatplanung berät. "Alle Einnahmen und Ausgaben im Haushalt müssen auf den Prüfstand gestellt und neu priorisiert werden." Es bedürfe jetzt "klarer, kluger und auch schmerzhafter Entscheidungen".
Obwohl Lindner der Adressat des Rechnungshofberichts ist, dürfte er den Rüffel aus Bonn als Rückendeckung empfinden, denn der Bundesfinanzminister sieht sich in den laufenden Etatberatungen allein für 2024 mit Mehrforderungen der Kabinettskollegen im Vergleich zur bisherigen Planung von bis zu 70 Milliarden Euro konfrontiert. Das ist unvereinbar mit Lindners Ziel, die Schuldenbremse des Grundgesetzes zumindest im Kernhaushalt auch im kommenden Jahr einzuhalten. Der Minister plant nach den vergangenen drei Krisenjahren für 2024 bisher mit einem Rückgang der Ausgaben um gut 50 Milliarden auf 423 Milliarden Euro. Auch die Neuverschuldung, die vor Ausbruch der Corona-Pandemie jahrelang bei null gelegen hatte, soll von zuletzt gut 45 Milliarden auf "nur" noch rund zwölf Milliarden Euro sinken.
Scheller äußert sich in seiner Empfehlung nicht zur Frage, ob die krisenbedingte Rekordverschuldung angesichts von Pandemie, Inflation und Ukraine-Krieg aus seiner Sicht gerechtfertigt war. Er verweist jedoch auf die Folgen: Um die Probleme zu bewältigen, so der Rechnungshofchef, habe der Bund in kürzester Zeit fast 850 Milliarden Euro an neuen Krediten verplant - verglichen mit rund 1,3 Billionen in den vorangegangenen 70 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik. Insgesamt stehe man damit jetzt bei mehr als 2,1 Billionen Euro. "Diese Dynamik und ihre Folgen drohen die Tragfähigkeit der Bundesfinanzen und damit auch die staatliche Handlungsfähigkeit ernsthaft zu gefährden", erklärte er.
Um das Heft des Handelns in der Hand zu behalten, müssen Regierung und Parlament aus Sicht Schellers den Haushalt konsequent auf die Kernaufgaben ausrichten und die Ausgaben weg von konsumtiven Posten - also etwa Sozialleistungen - hin "zu investiven mit Zukunftswirkung verlagern". Heute seien 90 Prozent der Ausgaben fest gebunden, der Spielraum für Veränderungen werde immer geringer. Das könne so nicht bleiben. Auch dürften neue Maßnahmen künftig nur noch beschlossen werden, wenn klar sei, dass man sie auch langfristig finanzieren könne. Darüber hinaus fordert der Rechnungshofpräsident die Entwicklung dauerhafter, tragfähiger Konzepte für alle Zweige der Sozialversicherung. Um den Haushalt zu entlasten, schlägt Scheller vor, die hohen Zuschüsse an die Sozialkassen einzufrieren.
Große Sorgen bereiten dem Bundesbeauftragten nach eigenem Bekunden vor allem die massiv gestiegenen Zinskosten, die sich einmal aus dem höheren Schuldenstand, vor allem aber aus den Leitzinsanhebungen ergeben, mit denen die großen Notenbanken der Welt die Inflation in den Griff bekommen wollen. Noch 2021 lagen die Zinsausgaben des Bundes bei gerade einmal vier Milliarden Euro. In diesem Jahr werden es fast 40 Milliarden sein - das Zehnfache also. Damit wendet der Bund genauso viel Geld für den Schuldendienst auf wie zusammengenommen für Bildung, Familien und Landwirtschaft. Scheller warf dem Finanzministerium vor, es verpasst zu haben, sich die günstigen Konditionen der vergangenen Jahre langfristig zu sichern. Zudem müsse der Bund aufhören, krisenbedingte Einmalausgaben in sogenannte Sondervermögen auszulagern. Solche Schattenhaushalte seien intransparent und verletzten die Schuldenregel.
Ein weiterer Dorn im Auge ist dem Rechnungshofchef die immer weiter wachsende "Schuldenkluft" zwischen Bund und Ländern. "Während der Bund Rekordschulden macht, werden die Länder in ihrer Gesamtheit in 2022 positive Haushalte haben und ihren Schuldenstand verringern können. Im Ergebnis finanziert der Bund mit seinen neuen Schulden die Konsolidierung der Länderhaushalte", klagte Scheller.
Hinzu kommt, dass die Länder über die Jahre dem Bund auch auf der Einnahmeseite immer weitere Zugeständnisse abgepresst haben. So ist der Bundesanteil am Gesamtsteueraufkommen zwischen 2011 und 2023 von 43,3 auf 39,3 Prozent gesunken. Allein dadurch entgehen dem Bund im Planungszeitraum von 2022 bis 2026 insgesamt 200 Milliarden Euro, die stattdessen Ländern und Gemeinden zugutekommen. "Der Bund hat seine Belastungsgrenze erreicht," sagte Scheller. "Die Bund-Länder-Finanzbeziehungen müssen überprüft und neu geordnet werden."