Bundespräsidentenwahl:Holocaust-Überlebende mischt den Wahlkampf in Österreich auf

  • Der Präsidentschaftswahlkampf in Österreich ist bereits reichlich außergewöhnlich. Nun mischt sich eine 89-Jährige mit einem bemerkenswerten Video ein.
  • Die Holocaust-Überlebende hat sich vor die Kamera gesetzt, um vor gefährlichen Folgen rechter Politik zu warnen.
  • Im Netz geht das Video bereits viral.

Von Oliver Das Gupta und Sebastian Jannasch

Zu den außergewöhnlichen Ereignissen im Jahr 2016 gehört ganz ohne Frage die Präsidentenwahl in Österreich: Ein bis dahin weitgehend unbekannter FPÖ-Vizeparteichef und der langjährige Grünen-Parteichef konkurrieren ums höchste Staatsamt, ein Wahlgang wird annulliert, ein weiterer wegen nichtklebenden Klebers abgesagt. Inzwischen bewegt sich das Szenario also irgendwo zwischen Kafka und Loriot (angesichts der Dramatik und Fallhöhe liegt es eher bei Kafka).

Nun, etwas mehr als eine Woche vor dem hoffentlich finalen Urnengang, mischt eine bislang unbekannte Person im Wahlkampf mit - und denselben mächtig auf.

Es handelt sich um Gertrude, 89 Jahre ist sie alt. In einem Video ergreift sie Partei: Sie warnt vor dem FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer, lobt Alexander Van der Bellen. Eine aufwendige Inszenierung des Wahlkampfteams des unabhängigen Kandidaten ist der Beitrag der alten Dame nicht, nur ein einfaches Video. Ein Video, das sich allerdings mit verblüffender Schnelligkeit über soziale Netzwerke verbreitet. Aber dazu später.

Einfache Worte mit großer Wirkmächtigkeit

Gertrude spricht mit ruhiger Stimme, in einfachen Worten, die jeder versteht, geschliffen ist da nichts. Vielleicht ist gerade das der Grund für die Wirkmächtigkeit: Sie beobachte, wie die Rechtspopulisten in Österreich versuchten, "das Niedrigste aus den Leuten herausholen, nicht das Anständige", sagt sie. "Das war schon einmal der Fall."

Im Oktober hatte der FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache angesichts der Flüchtlinge vor einem "Bürgerkrieg" gewarnt. Als sie das gehört habe, sagt Gertrude, sei es ihr kalt den Rücken hinuntergelaufen. "Ich habe einen Bürgerkrieg als siebenjähriges Kind erlebt." Im Jahr 1934 kam es in Österreich zu Kämpfen zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern auf der einen Seite und den Christsozialen auf der anderen. Letztere errichteten später den austrofaschistischen Ständestaat. "Da habe ich meinen ersten Toten gesehen, leider nicht den letzten." Dass ein Politiker nun sage, ein Bürgerkrieg sei wieder möglich, "das darf doch nicht sein".

Die Seniorin kritisiert, dass Hofer, die religiöse Formel "So wahr mir Gott helfe" auf seine Wahlplakaten drucken ließ. Darin drücke sich die ganze Falschheit des Kandidaten aus. Im Oktober hatten auch Bischöfe der evangelischen Kirche, der Hofer angehört, bemängelt, hier werde versucht, Gott für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Der Kandidat selbst hatte 2009 Kritik aus der katholischen Kirche an der FPÖ als "dumme, heuchlerische und politisch motivierte Hexenjagd" bezeichnet und von brennenden Scheiterhaufen gesprochen.

Hofer gibt sich im Wahlkampffinale betont gemäßigt und harmlos, in Broschüren posiert er mit Frau, Tochter und einem Hundewelpen, um konservative Wählerschichten zu erschließen. Dabei steht der programmatische Kopf der FPÖ stramm rechts (hier mehr dazu).

Vergiftetes Klima

Das innenpolitische Klima in Österreich ist schon seit Jahren vergiftet, doch besonders drastische Auswüchse zeigt der verlängerte Präsidentschaftswahlkampf. Besonders die FPÖ-Anhängerschaft bedroht in sozialen Netzwerken inzwischen offen politische Gegner, Journalisten und überhaupt alle Kritiker. Auch Alexander Van der Bellen erhält immer wieder Morddrohungen. Auch auf dieses Gesamtszenario nimmt Gertrude Bezug.

Diese Atmosphäre erinnere sie an die Situation in den 1930er Jahren, als schon einmal Beleidigungen und Herabwürdigungen anderer Menschen salonfähig waren, sagt sie und spielt auf antisemitische Ausfälle nach dem "Anschluss" an Hitler-Deutschland an. Damals hätten die Wiener zugeschaut und gelacht, als die Juden gezwungen wurden, die Straßen zu reinigen. "Das versucht man, wieder herauszuholen aus den Menschen. Das schmerzt."

Am Ende des Videos wird eingeblendet, welches Schicksal Gertrude in frühen Jahren erleiden musste. Mit 16 war sie mit ihren Eltern und ihren zwei jüngeren Brüdern nach Auschwitz deportiert worden. Ihre gesamte Familie wurde von den Nazis ermordet - sie kehrte allein nach Wien zurück.

Mehr Information über die Frau mochte das Wahlkampfteam von Van der Bellen auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung nicht geben. Aber man erfährt dort, wie es dazu kommt, dass sich eine Holocaust-Überlebende in den Wahlkampf einschaltet. Gertrude habe sich vor etwas mehr als einer Woche gemeldet und habe sinngemäß gesagt: "Ich möcht' jetzt etwas zur aktuellen Situation sagen."

"Für mich ist es wahrscheinlich die letzte Wahl"

Zwei Van-der-Bellen-Helfer hätten sie daraufhin besucht und einfach die Kamera laufen lassen. Am Vormittag des 24. November wurde das Video veröffentlicht - und seitdem schon mehr als 1,4 Millionen mal angesehen. Angesichts von 8,7 Millionen Österreichern ist das eine sehr beachtliche Zahl, wenn das Video sicherlich auch außerhalb der Landesgrenzen angeklickt wird.

In dem Video spricht sich die betagte Dame dann auch für Van der Bellen als nächsten Bundespräsidenten von Österreich aus. Er stehe für Frieden und Gleichberechtigung, sei reifer und vernünftiger, sagt sie.

Auch an die Bürgerinnen und Bürger richtet Gertrude eine Aufforderung - vor allem an die, die zwar zu Hause über die Politik schimpfen, dann aber nicht zur Wahl gehen. "Ich muss mein Recht als Bürger in Anspruch nehmen", fordert sie. Dabei müsse man sich auch überlegen, was der Gewählte anschließend vorhabe.

Vor allem die Jüngeren sieht die Wienerin in der Pflicht. "Die jungen Leute müssen wählen gehen. Für mich ist es wahrscheinlich die letzte Wahl", sagt sie. "Aber die Jungen haben noch ihr ganzes Leben vor sich." Deshalb müssten sie ihre Wahl so treffen, dass es ihnen auch in Zukunft noch gut gehe.

Bevor der Clip veröffentlicht wurde, haben die Wahlhelfer von Alexander Van der Bellen Gertrude auf mögliche Negativ-Reaktionen hingewiesen, auf den Hass, der bei Facebook grassiert und der auch nicht vor Menschen wie ihr haltmachen werde. Gertrude, heißt es, habe da weniger Sorgen gehabt, ihr Rat: "Macht euch nicht so viele Gedanken."

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