Bundespräsidentenwahl:Das Gauck'sche Gesetz

Wenn die Politik nur noch Verwaltung ist und die Demokratie zu leerer Routine verkommt, ist wieder Charakter gefragt: Über das Verlangen nach einem gezeichneten Menschen.

Thomas Steinfeld

Es ist schon zwei Jahre her, dass der Schriftsteller Rainald Goetz die Sprache Angela Merkels so beschrieb: "Für die großformatigen Sätze bedeutungsschweren Inhalts findet sie keine Melodie", heißt es in "Klage", einem Tagebuch aus dem halböffentlichen Leben Berlins. "Folgen drei von ihnen hintereinander, kann sie selber nicht mehr folgen geistig, versteht nicht, was sie sagt, und gerät in eine pastös pastorale Redeweise, die durch ein automatisiert manieristisches, merkelspezifisches Ab und zu wenig Auf am Satzende entsteht."

Grünen-Vorstandssitzung - Gauck

Bundespräsidentschaftskandidat Joachim Gauck ist Projektionsfläche für die Sehnsüchte von Medien und Bürgern.

(Foto: dpa)

Alle Angst und Begeisterung, alle Hoffnung und Ratlosigkeit scheinen Angela Merkel fremd zu sein, an die Stelle des Existentiellen treten eine unbewegliche Miene, eine immer wieder von Neuem abfallende Satzmelodie sowie der oft gleiche Satzanfang: "Ich gehe davon aus." Seit vier Jahren und sechs Monaten herrscht diese Sphinx ohne Geheimnis über Deutschland, mit einer unveränderlichen Mimik, mit einer unveränderlichen Sprache - aber was heißt da "herrscht"? Jedes Pathos, das demonstrative Entscheiden und Richtungweisen ist ihr ja so fremd, dass man tatsächlich meinen könnte, die Herrschaft sei ein Apparat, den man eher verwaltete, als dass man ihn regierte.

Das reicht offenbar nicht mehr aus: Nirgendwo wird das so sichtbar wie in der Unterstützung, die Joachim Gauck gegenwärtig bei der Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten erfährt, quer selbst durch die Lager der gegnerischen Parteien, quer durch die großen Zeitungen und Zeitschriften, quer durch die Bevölkerung. Diesen Zuspruch bekommt er nicht schon deshalb, weil er vielleicht ein viel besserer Bundespräsident als Christian Wulff wäre. Er erhält ihn auch nicht nur, weil die Kandidatur Christian Wulffs ein Ergebnis eines Ämterkalküls innerhalb seiner Partei ist - noch keiner wäre ohne ein solches Kalkül zu einem solchen Posten aufgestiegen.

Gauck soll Bundespräsident werden, weil er einmal ein Repräsentant der Gesellschaft gegen die Politik war, weil er ein persönliches Risiko für sich und seine Anhänger einging, weil die politische Moral in ihm die Autorität einer Behörde annahm und weil man sich von ihm die Wiederbelebung des Politischen durch die Moral erhofft. Und weil er ein nach wie vor pastorales Organ besitzt, in dem ein Bewusstsein möglicherweise eher schlecht als recht überstandener Krisen fortlebt, eine Stimme, für die gilt, was der Soziologe Niklas Luhmann in seiner posthum erschienenen "politischen Soziologie" (Suhrkamp Verlag, Berlin 2010) über eine Politik schreibt, die als "Natur der Sache erlebt und für wahrheitsfähig gehalten" wird.

Nie war Horst Köhler den Deutschen so sympathisch wie im Augenblick seines Abgangs. Wie seine Stimme zitterte, als er seinen Rücktritt bekanntgab, wie sehr man ihm anmerkte, dass er gerne höchster Würdenträger geblieben wäre - das leuchtete ihnen viel mehr ein als die begründete Kritik, hier habe einer seiner Amt nicht verstanden und lasse seinen Empfindlichkeiten freien Lauf. Im Scheitern verrutschte die Maske des Komödianten (sie gehörte dem Tartaglia, dem bedeutungsschweren Mann mit der grünen Hose und der großen Brille) und ließ, für einen Augenblick, eine persönliche Tragik erkennen. Dass mit diesem bis heute nicht ganz erklärten Rücktritt eine besondere Situation geschaffen wurde, hatte Angela Merkel nicht begriffen, als sie darauf Christian Wulff zu ihrem Kandidaten machte: einen Mann, an dem nichts Krisenhaftes zu erkennen ist, einen Funktionär, der einen leichten, schnellen Weg gegangen war, die ganz normale Gestalt eines deutschen Politikers eben.

Und wie anders sollten gewöhnliche Politiker sein? Ein jeder von ihnen ist ja ein Schauspieler der Verantwortung, und er ist es umso mehr, je weniger Verantwortung er zu tragen hat. Politik - das ist auch der Glaube, durch staatliche Entscheidungen einen Einfluss auf das Gesellschaftliche nehmen zu können. Aber dieser Einfluss scheint jetzt schon seit Jahrzehnten zu verschwinden, und je weiter die sogenannte Finanzkrise fortschreitet, desto mehr verbreitet sich der Eindruck, es tobe ein Elefant im Porzellanladen: Während darin die Politiker niederknien, um zwei Scherben aneinanderzukleben, hört man im Hintergrund, wie es weiter birst und scheppert. Als Roland Koch vor ein paar Wochen seinen Abschied mit dem Satz begründete, Politik sei nicht sein Leben, war dieser auch eine Auskunft über die Politik: darüber, wie wenig man offenbar in ihr noch gestalten kann.

Einer, der aus dem Geschnatter heraussticht

So gehen die Tage der Politik dahin, im erbitterten Streit um kleine Summen und kleine Privilegien, etwa - erinnert man sich noch? - um Ulla Schmidts Umgang mit dem Dienstwagen (eine ebenso nachholende wie stellvertretende Debatte um die Rettung deutscher Banken mit staatlichen Mitteln) bis hin zur Kopfpauschale in der Krankenversicherung. Vermutlich will Roland Koch auch deswegen in die Wirtschaft gehen - und selbst die großen Entscheidungen, die es in den vergangenen Monaten gab, vor allem der Beschluss, das Finanzsystem durch einen einzigartigen Akt hoheitlicher Gewalt zu retten, aber auch die jüngsten "historischen" (so die daran beteiligten Politiker) Sparbeschlüsse, kommen keineswegs mehr als die Veränderung des gesellschaftlichen Lebens daher, die sie tatsächlich sind, sondern als Ausdruck einer "technischen Autonomie" oder "Zweckrationalität" (Niklas Luhmann), die sie in Maßnahmen einer politischen Verwaltung verwandelt.

Nicht Hilflosigkeit ist es also, was an der Politik so stört, dass nun schon zu Demonstrationen für die Kandidatur von Joachim Gauck aufgerufen wird. Sondern eine administrative Routine, an der jedes Bewusstsein für den Ernst der Lage zugrunde geht. Kein Mensch macht sich Illusionen darüber, dass ein Verbot von Leerverkäufen durch Investmentgesellschaften sofort unterlaufen werden wird, indem diese ihre Geschäfte in anderen Ländern abwickeln. Und nur sehr wenige glauben, es sei die Aufgabe der Wirtschaft, das Volk mit Arbeitsplätzen zu versorgen. Hingegen gibt es ein weit verbreitetes Bewusstsein von der Größe und der Bedrohlichkeit der gegenwärtigen Krise, und eher, als dass es sich durch die übliche Vermeidungssprache und die Geläufigkeit der medialen Auftritte beruhigen ließe, verlangt es, dass die Schocks, die gegenwärtig nicht nur das ganze politische System, sondern auch die Gesellschaft erschüttern, am politischen Personal sichtbar werden.

Diesem Verlangen geht keine Kritik voraus - wie überhaupt die Analyse politischer Entwicklungen, bis in die Wissenschaft ("Parteienforschung" heißt die Politologie in ihrem Übergang zum Boulevard) hinein, in den vergangenen Jahren zunehmend einer Mischung aus Tratsch, Strömungslehre und heruntergekommener Geschichtsphilosophie gewichen ist. Dieses Verlangen ist durch und durch moralisch. Es zielt auf die Glaubwürdigkeit des politischen Personals, es will Personifikation und Psychologie, es verlangt nach Leben und Charakter.

Die einmalige Allianz der Medien, die sich gegenwärtig hinter Joachim Gauck zusammenschließt, die Einigkeit, die von der Zeit bis zur Bild-Zeitung reicht, die Häme, mit der in dieser Woche der Spiegel auf seiner Titelseite das "Aufhören!" der Regierungskoalition fordert, sind eine Reaktion auf die Verwandlung von Politik in offenbar ausschließlich in kleinen Formaten arbeitende politische Verwaltung, in deren Folge zwar sehr viel gezankt wird, aber nicht einmal mehr Parteien zu erkennen sind - denn man streitet sich mittlerweile innerhalb der Lager nicht minder als zwischen den Fraktionen, wie überhaupt die Partei, das Programm und die beidem gebührende Loyalität längst eine eher anachronistische Angelegenheit geworden sind, bis hin zur lebenden Leiche einer angeblich liberalen Partei.

Gäbe es da einen, der aus dem Geschnatter herausstäche und als Gesicht und Stimme zu erkennen wäre! "So wie die Politiker das Publikum auf Symptome mutmaßlichen Wählerwillens abtasten", heißt es bei Niklas Luhmann, "so achtet das Publikum in seiner Zuschauerrolle auf Symptome der Vertrauenswürdigkeit." Was diese Regel - und der sich darin verbergende Wunsch nach Gestaltung - im Einzelnen bedeutet, ist nicht nur an der Kandidatur Joachim Gaucks abzulesen: Der Typus des charismatischen Politikers scheint, zumindest in den westlichen Gesellschaften, mit dem Regierungsamt in Konflikt zu geraten, worauf das Charismatische in die Opposition oder in den Anlauf zum Amt (Barack Obama) auswandert. Dieses Auseinander von Macht und Amts-Charisma ist im Amt des Bundespräsidenten von vornherein angelegt, aber so, dass er das Charisma im Amt zu entwickeln hatte und dann, wenn das Unternehmen gelang, zu Richard von Weizsäcker wurde.

Diese Möglichkeit wird nun nicht einmal mehr erwogen: In Christian Wulff und Joachim Gauck stehen sich der Amtspolitiker ohne Charisma und der Nichtpolitiker mit Charisma gegenüber. Die publizistische und gesellschaftliche Koalition für diesen Nichtpolitiker ist auch deshalb so groß, weil er zwar aus Ostdeutschland kommt, aber nicht nur als Repräsentant dieser Herkunft wahrgenommen wird. Er repräsentiert den Ernst der Geschichte überhaupt, nicht lediglich den der Stasi-Akten. Wie ein Magnet zieht er jetzt die frei flottierenden Sehnsüchte nach dem Typus des charismatischen Politiker an, den es in der Politik selbst nicht mehr gibt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: